Grabmoosalm (German Edition)
leckte ihr die Stiefelspitzen.
Der Wolf fühlte sich als stolzer Sieger, legte den Kopf zurück und
heulte kurz auf. Dann hinkte er mit eingezogenem Schwanz ins neblige Dunkel des
Waldes.
Auf dem Heimweg machte sich das Rot von Sissis eigenem Blut, gemischt
mit dem des Wolfs, gut auf der weiß-schwarzen Farbkombination ihres Fells.
Weniger elegant war ihr Gang. Die Sissi hinkte stark und bewegte sich ruckhaft
wie ein defekter Roboter. Die Zunge hing bis auf den Boden.
Die Annemirl dachte kurz daran, den Tierarzt zu rufen. Doch nach
intensiver Zwiesprache mit der Verwundeten ließ sie den Gedanken wieder fallen.
Die ist ein harter Hund, dachte sie. Die kommt auch so wieder auf die Beine.
Bestätigung erhielt sie von einem Blick aus Sissis Augen. »Vergiss
das!«, sollte der wohl bedeuten. »Eine Alpensissi kennt keinen Schmerz.«
Als die zwei nach erlebnisreichen Stunden zurück zur Alm kamen, war
das Schicksal der Annemirl bereits besiegelt. Schicksal, so heißt es, sei die
Zeit in ihrer beschleunigten Form.
Das muss wohl stimmen, denn kurz darauf war alles sehr schnell
gegangen.
Verwundert hat’s nachher keinen. Droben auf der Grabmoosalm ist man
an so was gewöhnt.
Seit ihrer Geburt hatte die Annemirl hier gelebt. Zuerst allein, seit
sechsundzwanzig Jahren zusammen mit ihrer Tochter, der Resi, und seit neun
Jahren auch noch mit dem Seppe, ihrem Enkel.
Ab und zu war auch noch die Moserin, ihre Mutter, vor Ort gewesen,
wenn sie sich aus dem Wohnstift drunten, in dem sie lebte, heraufchauffieren
ließ. So war es auch heute gewesen.
Kurz bevor die Annemirl mit geschulterter Flinte und Sissi, der
großen Hinkenden, auf dem schmalen, matschigen Wiesenpfad zur Hütte kam, standen
sie schon da und winkten, die Resi und der Seppe.
Die Moserin stand nicht da. Nie im Leben hätte sie ihrer Tochter
zugewinkt.
Fünf weiß-braun gefleckte Kühe grasten in Wolken von hartnäckigen
Fliegen und Schwaden von Kuhfladendunst vor der Alm. Ihre Hinterteile waren
nach Nordwest ausgerichtet.
Von dort wehte ein stürmischer Wind. Er hatte den ganzen Tag schon
an der kahlen Fichtengruppe vor dem Haus gezaust und graue Wolkenfetzen immer
wieder vor die dürftige Sonne getrieben. Der Wind wehte auch jetzt noch.
»Na, wie war’s?«, rief die Resi.
»Großmutter, hast du den Wolf?«, fragte der Seppe mit heller Stimme.
Er wäre am liebsten mitgekommen, um das Tier zu erlegen.
Ein Kind, das heutzutage außerhalb der Spielkonsole einen Wolf
erlegen will, hatte sich die Annemirl erfreut gedacht und trotzdem abgelehnt.
Es war einfach zu gefährlich.
Sie klemmte sich die Flinte unter den Arm. Zusammen gingen sie
hinein. Der verletzten Sissi ließen sie den Vortritt.
»Bist du der Wolf?«, fragte die Moserin die Sissi.
Die Moserin – also die Urmutter des real existierenden
Moser-Clans – war hager wie eine Bohnenstange, trug einen Dutt und eine
Lesebrille. Ihr kastenförmiges Kostüm ähnelte einem langgestreckten dunklen
Sarg mit einem Rocksaum, der sich in unvorteilhafter Nähe zu den flachen
Schuhen befand. Im Freien schleifte er oft im Dreck. Die dunklen Augen standen
weit auseinander, sie hatte blasse, schmale Lippen und eben diese Hakennase,
welche die Habsburger und die Familie Moser gleichermaßen auszeichnete. Es wäre
im Übrigen egal gewesen, ob sie eine Lese-, eine Gleitsicht- oder eine
Fernsichtbrille auf der Nase gehabt hätte. Sie hätte eh nicht eins vom anderen
unterscheiden können. Die Moserin wusste seit geraumer Zeit nicht mal mehr den
eigenen Vornamen. Doch bei diesem Namen wurde sie nie gerufen. Bedenklich war
nur, dass sie oft auch nicht reagierte, wenn sie »Moserin« gerufen wurde.
Die Moserin hatte einen Schatten. Vergaß alles. Verwechselte vieles.
Stand vor ihrem Kleiderschrank und wusste nicht, warum. Verlangte nach einer
Kutsche, einer vierspännigen, und als das Taxi kam, wusste sie nicht mehr,
wohin sie damit wollte und warum.
»Wer sind Sie denn? Was machen Sie hier?«, hatte sie ihre Enkelin
gefragt, als die Resi sie im geblümten Kleid im Wohnstift abholte.
Mit anderen Worten: Die Moserin war neunundsiebzig Jahre alt und schien
komplett dement.
»Bist du der Wolf?«, fragte sie also die Sissi und reckte den
Unterkiefer gebieterisch nach vorn.
Die Sissi hatte keine Zeit zu antworten. Sie leckte gerade ihre
Wunden und wusste mit der Frage nichts Rechtes anzufangen.
Und die Moserin schien in der nächsten Sekunde vergessen zu haben,
dass sie eine Frage gestellt hatte. Sie verlangte
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