Grabmoosalm (German Edition)
Frauen an. Zuerst ging es
nur um den Wolf, der die Schafe riss, und um die Schafe, welche die Moserin
retten wollte, und den Wolf, den sie deshalb erschießen wollte.
»Des lass i ned zua!«, schrie die Annemirl.
Die Moserin grinste angewidert.
Eine Wolke der Beklemmung breitete sich aus.
Schon in seiner Zeit als Chef der Rosenheimer Mordkommission hatte
Joe Ottakring solch hitzige oder gar feindliche Diskussionen verabscheut.
Musste er sich jetzt als Pensionist damit rumschlagen? Noch dazu auf einer Alm?
Irgendwas stimmte sowieso nicht. Die alte Moserin strahlte eine
Aggressivität aus, die ungewöhnlich war. Es passte auch, dass sie mit seiner
Mutter so etwas wie befreundet war. Die war meistens grad so. Er musterte die
alte Frau noch einmal. Sie trug eine Brille und einen Dutt. Äußerlich und
innerlich verhutzelt.
Unmerklich schüttelte er den Kopf und verzichtete auf den Kaffee
oder das Bier, auch das Käsbrot, das er vorgehabt hatte zu bestellen. Er musste
wieder an die frische Luft, um einen klaren Kopf zu bekommen.
Die Flinte legte er mitten auf den Fußboden, warf einen letzten
Blick auf die drei Frauen, lud den Rucksack wieder auf, musste sich noch einmal
gegen die wieder erstarkte Tigerdogge durchsetzen und marschierte nach draußen.
Mittlerweile hatte die Dunkelheit den Berg erfasst.
»Sakramentisch!«, dachte er, holte die Taschenlampe aus dem Rucksack
und folgte dem schmalen Pfad durch den Hochwald den Berg hinunter. Eine kalte,
schneidende Brise verfolgte ihn. Er roch den Qualm der Papierfabrik.
Seltsam, dachte er, die beiden Frauen. Er hatte ein in vielen Dienstjahren
erprobtes, nagendes Gefühl, dass da etwas mit denen nicht stimmte. Und
verschwommen kam ihm in den Sinn, dass er nicht einmal nach dem Namen des
Hundes gefragt hatte.
Der grelle Schrei eines verspäteten Eichelhähers über seinem Kopf
holte ihn auf den Boden zurück.
DREI
So eine Tötungsart war auch für den früheren BKA -Agenten und jetzigen Chef der Rosenheimer
Mordkommission Rico Stahl ungewöhnlich. Jemand, dem exakt in den Mund
geschossen worden war. Selbstmord war ausgeschlossen, die Umstände deuteten
eindeutig auf Fremdeinwirkung hin. Jemand hatte dieses Bergidyll hier oben
verletzt und einen Menschen erschossen. Ob mit Absicht oder versehentlich, war
zu klären. Er hatte es schon so oft erlebt. Viel zu oft. Ermordete Menschen
waren nicht nur tot. Sie hatten nichts Menschliches mehr an sich.
Die junge Frau, die nun in der Stube der Grabmoosalm vor ihm saß,
hatte den Arzt verständigt und der die Einsatzzentrale. Sie konnte ebenso gut
die Täterin sein wie – nein, die alte, verhärmte Frau drüben am Fenster
war’s bestimmt nicht.
»Und wer ist das?«, fragte Rico und nickte zu der Alten hin.
»Das ist meine Großmutter, die Moserin«, sagte die Resi. Sie
schickte ihre Augen zur Decke und wischte ein paarmal mit der Handfläche vor
dem Gesicht hin und her. »Sie hat Alzheimer.«
Aha, plemplem, dachte Rico. Hätt ich mir denken können. Er sah die
junge Frau mit gesenktem Kopf an. Wie ein wachsamer Boxer im Ring.
»Und das ist Ihr Bub?« Rico rückte sich die rot gesprenkelte
Krawatte zurecht.
»Der Seppe, ja.« Und zum Seppe sagte sie. »Und gib dem Herrn
Kommissar eine Hand. Sei ein Galant.«
Doch der Seppe streckte dem Kommissar die Zunge raus, drehte sich um
und verschwand durch die Tür.
»So, dann lassen Sie uns endlich in medias res gehen«, meinte Rico
und rutschte mit der halben Pobacke von der Tischkante, die er bisher in
Anspruch genommen hatte. »Erzählen Sie.«
Sie waren der Resi zuliebe ins Nebenzimmer gegangen, damit die
zerschossene Mutter aus dem Blickfeld war. Und die Spusi drüben in Ruhe ihre
Arbeit verrichten konnte.
Rico hockte sich rücklings auf einen Stuhl der Resi gegenüber.
»Wohin sollen wir gehen?«, fragte die Resi.
Rico konnte mit der Frage nichts anfangen.
»So, wie das geklungen hat, liegt das in Süditalien«, meinte die
Resi. »In Medio Rio.«
Rico konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
»In medias res. Das heißt so viel wie ›gleich zur Sache kommen‹.«
Verlegen senkte die Resi die Augenlider und nickte. »Ja, so sind s’
halt, die Buam«, sagte sie leise.
Verstohlen drehte sie den Kopf und schaute zur Tür. Nein, der Seppe
lungerte nicht dort rum. Und die Moserin stand wie ihr eigener Schatten am
Fenster und sah hinaus, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Als ob ein
Beerdigungsinstitut dort einen Sarg senkrecht abgestellt hätte.
»Also, es
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