Grabmoosalm (German Edition)
Mannes und herkömmlicher Methode. Doch ein Mann
tauchte im Familienbuch nie auf. Es war stets bei einer Moserin geblieben.
Ob es nun an den Charaktereigenschaften der Mosers gelegen hat, an
der Einsamkeit dort oben oder ob es die pure Verzweiflung war, in dieser
trostlosen Gegend leben zu müssen – die Bewohner der Grabmoosalm lagen
ständig in Streit miteinander. Und zwar jede mit jeder. Besonders hervorgetan
hatten sich dabei die Moserin und die Annemirl, ihre Tochter.
»Geh du heid in den Stall!«
»Na, i war gestern scho. Geh du!«
»Zifixluja no amoi! I werd an Dreck tun und in’n Stoi gehn. Geh
du, hab i gsagt!«
Sie lagen sich in den Haaren, zerrten sich an ihren Schürzen, bis
sie auf dem Fußboden herumkugelten. Und vertrugen sich erst nach Tagen wieder,
bevor der Streit aufs Neue losging.
Hätte die Annemirl auch nur im Entferntesten geahnt, wie schrecklich
absehbar ihre Zukunft sein würde, als sie an diesem Tag auf die Jagd nach dem
Wolf ging, hätte sie ihre Mutter wahrscheinlich vorher erschlagen.
So aber kam alles ganz anders.
Erster Teil
EINS
Es ging alles sehr schnell. Die Annemirl konnte nicht
vorhersehen, dass sie praktisch überhaupt keine Zukunft mehr vor sich hatte.
Jedenfalls keine, die der Erwähnung wert gewesen wäre.
Draußen wehte ein leichter Wind von Norden. Es war kühl. Neblig
trotz des Luftzugs. Im Gastraum der Grabmoosalm verbreitete der alte
tannengrüne Kachelofen eine wohlige Wärme. Die Annemirl stand mit einem Haferl
heißem Kaffee in der Hand vor einem der vier Jogltische im Gastraum. Die
geladene Flinte von der Wolfsjagd schob sie quer über den Tisch zu ihrem Platz.
Es schepperte.
Raffiniert wie eine Giftschlange schnappte sich die alte Moserin die
geladene Flinte genau in dem Augenblick, als die Annemirl mit ihrem halb vollen
Kaffeehaferl aus cremefarbener Keramik an ihren Platz auf der Bank rutschte.
Sie schob sich noch ein rotes Kissen unter, sammelte den langen Rock ein und
streifte die weiße Schürze glatt. Hinter ihr ein Fenster, rote Geranien in der Fensternische.
Die Moserin hob die Flinte fachgerecht und legte an. Entsicherte.
Zielte über Kimme und Korn auf ihre Tochter. Sie rang nach Luft. Schweiß perlte
von ihrer Stirn.
»Was machst du da?«, schrie die Annemirl. »Du blöde Kuh! Nimm die
Flinte runter!«
Sie wollte die Tasse an die Lippen setzen. Ihre Hand blieb mitten in
der Bewegung stehen.
Der lang gezogene Knall eines Gewehrschusses rollte durch den
Gastraum.
Wie eine Granate explodierte die Kaffeetasse vor dem Gesicht der
Annemirl. Winzige, halb winzige und sehr winzige Scherbchen verteilten sich
zusammen mit dem braunen Gesöff auf einen Schlag über Annemirls weiße Schürze,
ihr blutleeres Gesicht und das eh schon rot geblümte Kopftuch. Hässliche
Flecken entstanden.
Ein dünner Schrei von der Tür her. Die Resi hielt sich die eine Hand
vor den Mund und den Seppe an der anderen Hand.
Die Sissi sah vom Ofen her gelangweilt auf.
»Was haaaaaa …« Was hast du vor, wollte die Annemirl wohl noch
schreien. Es wären ihre letzten Worte gewesen. Doch dazu kam es nicht mehr. Im
Moment des größten Mundaufsperrens beim »aaaa …« schlug die zweite Kugel
in rotes Fleisch ein und nahm auch noch drei Zähne mit.
Die Moserin hatte ihr mit unbewegtem Gesicht direkt in den Mund
geschossen.
Alles, was die Moser Annemirl je gewusst, gedacht, gefühlt oder geliebt
hatte, troff behutsam wie Himbeerpudding an der Glasscheibe hinter ihr hinab.
Die Moserin, wie sie ihr den Schlüssel zur Alm übergibt. Die kraftvolle
Gestalt Sissis, wie sie sich in den Wolf verbeißt. Der Körper ihres toten Babys
in seinem Bettchen, ihre erste Fehlgeburt. Der Streit mit dem Pfarrer wegen
ihres sündigen Verhältnisses im Dorf unten. Weihnachten auf der Alm. Das
Gesicht ihrer Tochter und ihres Enkels, die jetzt fassungslos an der Tür
verharren.
Bilder über Bilder, die sich in weniger als einer Viertelsekunde gegenseitig
einholten, bevor ihr durchlöcherter Kopf, von dem die Hälfte fehlte, nach links
wegrutschte.
Die Moserin bückte sich, legte das Gewehr auf den Holzbohlen des
Fußbodens nieder, pflückte die zwei leeren Patronenhülsen vom Teppich, pustete
hinein und steckte sie in die Schürzentasche.
»Endlich isser tot, der Wolf«, flüsterte sie halblaut und ließ sich
auf der Bank am Kachelofen nieder. Sie senkte die Augen auf die unter ihr
liegende Sissi und seufzte tief.
»Endlich tot. Kein Schaf mehr kaputt.«
Die Resi stand mit
Weitere Kostenlose Bücher