Grabmoosalm (German Edition)
ihm
übertrieben laut entgegen.
Er blickte ratlos an sich herunter. »Kitschhemd?«
»Na ja, Sie tragen doch sonst immer diese extracoolen Anzüge. Und
Krawatten. Richtig spießig. So ein Kitschhemd ist echt krass für Sie, Herr
Kommissar.«
Es folgte eine längere Pause, während der sie sich beide
stillschweigend musterten. Rico sah der Frau an, dass sie nachdachte und über
einer Lösung grübelte.
Dann sagte sie in traurigem Ton: »Ich will ehrlich zu Ihnen sein,
denn Sie gefallen mir. Sie sind nicht so ein typischer Bulle.«
Sie streckte ihm die Hand hin.
Er nahm sie.
»Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll«, sagte sie und entzog
ihm die Hand wieder.
Rico kapierte sofort, was sie meinte. Sie befand sich in einem
Zwiespalt. Auf der einen Seite wollte sie sich an der Aufklärung des Mordes an
ihrer Schwester beteiligen. Auf der anderen wollte sie ungern ihre Familie
belasten.
»Esther! Frau Hastemir! Sie wissen genau, wer Ihre Schwester getötet
hat. Und auch, wo sie getötet wurde. Wahrscheinlich auch, warum.«
Ricos Ton war schärfer geworden. Er machte eine Pause.
»Sie müssen es mir sagen. Sonst machen Sie sich strafbar.«
Esther warf ihm einen verzweifelten Blick zu, der in privatem Umfeld
sein Herz zum Schmelzen gebracht hätte. Am liebsten hätte er sie in den Arm
genommen und getröstet. Ihm war bewusst, was in ihr vorgehen musste.
Sie breitete die Arme aus und senkte den Blick.
Rico kannte diese Geste von Mariendarstellungen in der Kirche.
»Ich kann Ihnen nicht sagen, was mit meiner Schwester geschehen ist
und wer sie angeblich getötet hat. Ich kann es einfach nicht …«
Rico war viel zu erfahren, um zu glauben, dass Esther die Wahrheit
gesprochen hatte. Sie stand unter erheblichem Druck und wusste
selbstverständlich sehr viel mehr über die ganze schreckliche Geschichte, als
sie ihm gegenüber preisgeben wollte.
Er versuchte es ein letztes Mal.
»Esther«, sagte er so eindringlich, wie es ihm unter den Umständen
möglich war. »Denken Sie nach. Sie machen sich der Beihilfe schuldig, wenn Sie
nicht die Wahrheit sagen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis ich genügend
Beweise habe, um den Mörder zu überführen. Und dann geht es vor Gericht. Sie
werden schlecht aussehen. Zeugenaussage verweigert. Im Zweifelsfall die
Unwahrheit gesagt. In einem Mordfall. Kommen Sie – sagen Sie mir, was Sie
wissen!«
Esther war zu Boden gesunken und hatte die Arme um die Knie
geschlungen. Tränen kullerten über ihre Wangen. Sie schüttelte den Kopf.
Er ließ ihr Zeit.
Wieder und wieder schüttelte sie den Kopf. Bis der Kopf vornüber
sank und ihr Schluchzen in hemmungsloses Weinen überging.
Rico Stahl blickte auf die Uhr. Nicht erst nach diesem Gespräch war
er sich sicher, wer der Täter war. Es konnte sich nur mehr um wenige Halbtage,
vielleicht Stunden handeln, ihn zu überführen.
***
»Können Sie bestätigen, Frau Attl, dass Herr Mühlhofer
Dienstagnacht hier in der Firma war?«
Frau Attl war die Personalchefin von Colatol. Chili Toledo befragte
sie in deren spärlich bestücktem Büro, ohne den angebotenen Stuhl anzunehmen.
Es würde nicht lange dauern. Entweder ja oder nein. Den Stand der Ermittlungen
hatte sie der Personaldame quasi schon unter der Tür geschildert.
Zwei Frauen konnten nicht unterschiedlicher sein als Frau Attl und
Chili. Die eine in einem zementgrauen, aus der Mode gekommenen Kostüm mit
Jäckchen und Rock und einer Brille mit dicken dunklen Stegen. Die andere mit
hautengen stonewashed Jeans, breitem Gürtel mit Silberschnalle und einem
türkisfarbenen Top mit grün schillernden Pailletten um den Ausschnitt. Nicht zu
vergessen die tellergroßen Ohrringe und die obligatorische Ray-Ban-Sonnenbrille
im roten Haar.
Vor knapp zwei Jahren war bei Colatol ein Zeiterfassungssystem
eingeführt worden, das die Anwesenheit des gesamten Personals bin hin zum
Geschäftsführer kontrollierte. Das kam den Untersuchungen jetzt zugute.
»Ich war auf Ihre Frage vorbereitet. Ja, Herr Mühlhofer hatte
Nachtschicht. Er ist am Dienstag um achtzehn Uhr sechsundvierzig gekommen und
hat am Mittwoch um sechs Uhr siebenundfünfzig in der Früh das Gelände wieder
verlassen. Es gab keine Unterbrechungen. Sehen Sie?«
Sie schob Chili den Ausdruck unter die Nase und wartete auf eine
Reaktion.
»Über zwölf Stunden?«, fragte Chili mit hochgezogenen Augenbrauen.
Maschinen lügen nicht.
»Über zwölf Stunden. Der Franz ist schließlich Produktionsleiter. Er
verdient gut. Er
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