Grabmoosalm (German Edition)
Gülsüms
Vater, dann ihr Onkel und schließlich an der rechten Tischkante Hakan Oben, der
Mann ihrer Freundin.
Vom Deutschen existierte ein Ganzkörperbild. Er war ein hoch gewachsener
Mann Mitte der Vierzig, trug ein Sakko zu einer teuren Jeans, hatte ein rundes,
glatt rasiertes Gesicht mit Brille und lächelte still vor sich hin. Ein wenig
glich er einem Handelsvertreter für Schweizer Uhren. Doch sein Gesicht war
nicht das eines Mannes, der Termine mit Schmuckhändlern vereinbart und Uhren
verkauft. Na ja, musste Rico denken, er verkauft ja auch keine Uhren, sondern
produziert Klebstoff. Auch diese Tätigkeit prägt ein Gesicht.
Gülsüms Vater war in sitzender Position fotografiert worden. Er saß
in sich zusammengesunken in einem Sessel mit Orientmuster und sah mit stumpfem
Blick in die Kamera. Dunkler Teint, an den Seiten ergrautes Haar, sorgfältig
gestutzter Oberlippenbart. Rico hatte Kenntnis, dass er achtundvierzig Jahre
alt war. Doch dieser Mann sah aus wie achtundsechzig und schien offensichtlich
am Ende seiner Kräfte zu sein. Er war der Typ Mann, der zwar zwanzig Jahre
älter aussah, aber schon im Alter von sechs Jahren mit den gleichen
Gesichtszügen herumgelaufen sein musste. Rico untersuchte die Rückseite des
Fotos mit der Lupe, konnte aber nicht feststellen, ob die Aufnahme aus der Zeit
vor Gülsüms Tod oder aus den Tagen danach stammte.
Der Onkel schien dem Vater zu ähneln. Doch hatte er im Gegensatz zu
ihm ein ovales Gesicht mit einem starken Kinn, Haar und Schnauzbart waren dicht
und dunkel. Er sah zufrieden aus.
Der Letzte der vier war Hakan Oben. Ihn und seine junge Frau Hanife
hatte Rico zusammen mit Chili ausgiebig vernommen. Dabei hatte er ihn als kalt
und abweisend eingestuft. Hier auf dem Foto wirkte er wie ein französischer Filmschauspieler,
dessen Wirkung etwas ins Orientalische abgerutscht war. Das lag wohl an den
schmalen Mondsichelaugen und dem Silberblick, den Rico live nicht bemerkt
hatte.
Rico Stahl straffte seinen Körper und sah auf die glorreichen Vier
hinab. Ein wenig kam er sich vor wie bei einer Zeugengegenüberstellung.
»Erkennen Sie den Täter wieder?«
Er betrachtete sich noch einmal kurz im Spiegel, strich das
magentafarbene Hemd glatt und machte sich auf den Weg.
Esther Hastemir machte keine Anstalten, sich für seine
Garderobe zu interessieren. Züchtig saß sie da, Gülsüms Schwester, Sonnenbrille
im Haar, Lippenstift, Piercing in der Nase, Hände im Schoß gefaltet.
»Sie haben die letzte Nacht vor dem Tod Ihrer Schwester mit ihr
zusammen verbracht«, stellte Rico fest. »Können Sie sich erinnern, was Gülsüm
anhatte, als sie zu Bett ging?«
Esther nickte.
Sie war wirklich eine verdammt aufregende Frau. Wenn er beim
Rosenheimer Herbstfest auf einer Bank neben ihr sitzen würde … Doch
natürlich war sie zu jung und … sie war Zeugin in einem Mordfall,
wahrscheinlich die wichtigste.
»Sie hatte wie immer einen Slip an und … ich glaube, einen weißen BH .«
Sie warf ihm einen Blick zu, vor dem er am liebsten geflüchtet wäre.
»Warum interessiert Sie das? Wäre es ihnen lieber, sie wäre ohne
alles zu Bett gegangen?«
Rico musste schlucken. Er täuschte einen Hustenanfall vor und gab
ihr ein Zeichen, weiterzusprechen.
»Was wollen Sie hören? Warum werden Sie rot, Herr Kommissar? Stellen
Sie sich meine Schwester gerade nackt im Bett vor?« Eine kurze Sekunde lang
hielt sie sich die Hand vor den Mund. »Da kann ich mich ja wohl selbst noch auf
einiges gefasst machen.«
Wenn er die Lider geschlossen hätte, wäre in diesem Augenblick
Claire vor seinem inneren Auge erschienen. Auch Claire, seine kleine
Südfranzösin, hatte ihn oft auf diese Art zu necken gepflegt.
»Was erlauben Sie sich?«, wäre wohl in dieser Situation die Antwort
eines bestimmten Kriminalrats gewesen, ging es Rico durch den Sinn. Doch der
wäre gewiss nicht rot geworden.
»Haben Sie in der Wohnung beide ein eigenes Bett gehabt?«, fragte
Rico zögernd. Er wusste, worauf er hinauswollte, und da gehörte dieses
Fragespiel dazu.
»Hehehehehe«, lachte Esther leise und rückte die Brille im Haar
zurecht. »Jetzt wird’s aber heiß. Nein, hehehehehe, wir haben beide zusammen
auf einem Klappbett geschlafen.«
»Mit einer Matratze, oder was?«
»Schaumstoffmatratze«, kam es gelassen aus Esthers hübschem Mund.
Wie Scheinwerfer waren ihre Augen auf ihn geheftet.
»Können Sie sich noch erinnern, was Sie für Bettzeug benutzt
hatten?«
Esther schien langsam zu
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