Grabmoosalm (German Edition)
fällt nicht unter die Tarifbestimmungen.«
Aha. So war das. Das sollten sie bei uns im Präsidium auch einführen.
Wir fallen schließlich auch nicht unter die Tarifbestimmungen.
»Es ist also ausgeschlossen, dass Herr Mühlhofer zwischendurch mal
Pause gemacht hat? Mit dem Auto eine Runde gedreht hat? Jemanden getroffen?«
Frau Attl nickte eifrig. »Ausgeschlossen. Unser System arbeitet
hundertprozentig. Es hat sich vielfach bewährt.«
Aha. Chili strich sich unnötigerweise die Jeans am Po glatt und …
»Ach, da fällt mir zufällig ein, Frau Attl … am gleichen Tag, also
am fünften des Monats, soll Gülsüm Hastemir hier bei Colatol angerufen und sich
für ihr Fehlen entschuldigt haben. Grund war der Diebstahl ihrer Handtasche.
Wird so etwas auch festgehalten?«
Wortlos drückte Frau Attl auf eine weiße Taste in einem ganzen Feld
voll weißer Tasten vor ihr.
»Hallo, Herr Stuhlfauth, kommen Sie doch bitte kurz zu mir …
Ja, jetzt. Sofort. Und bringen Sie die Tabelle für den fünften mit.«
Es ergab sich, dass Herr Stuhlfauth absolut sicher war und nachweisen
konnte, dass Gülsüm Hastemir am Dienstag kurz vor sieben Uhr angerufen hatte.
Er konnte sich sogar noch an den Grund erinnern, weil er in der Tat
außergewöhnlich war.
»Gülsüm hat mir von einem Einbruch erzählt und auch etwas von einem
entwendeten Pass geredet. Sie wollte deshalb zur Polizei gehen und gegen zehn
Uhr wieder auf ihrer Arbeitsstelle erscheinen.«
Frau Attl schilderte Gülsüm Hastemir als pünktlich und zuverlässig.
Und dass jemand anders sich für Gülsüm ausgegeben haben könnte, schloss Herr
Stuhlfauth kategorisch aus.
»Die Stimm von der Gülsüm, die kenn i.«
***
Joe Ottakring hatte seine Kontakte nach Ankara spielen
lassen. Und so war es nicht weiter verwunderlich, dass Chili Toledo als Erste
erfuhr, dass Gülsüm nicht die leibliche Tochter ihres vermeintlichen Vaters
war.
Mehmet Hastemir war 1964 in einem kurdischen Dorf in Ostanatolien
geboren worden und wuchs als Mitglied einer Großfamilie nach
fundamentalistischen Grundprinzipien auf. Er hatte sechs Brüder, die zum
Großteil schon in Deutschland lebten und arbeiteten. Auch Mehmets Wunsch war es
immer gewesen, später in diesem Land zu arbeiten, um für seine Familie sorgen
zu können. Seine Ehefrau und die fünf Kinder blieben in der Türkei zurück.
»So weit zu Mehmet«, hieß es in der vom Türkischen ins Deutsche
übersetzten E-Mail, die Ottakring kopiert und Chili zugespielt hatte.
»Gülsüms Mutter war in der Türkei bereits mit zwölf Jahren mit ihr
schwanger gewesen. Ihr leiblicher Vater war Mehmet Hastemirs Bruder Cem
Hastemir, der zunächst einige Zeit bei seiner vielköpfigen Familie in der
Türkei geblieben war, bevor auch er nach Deutschland einreiste. Als eine von Mehmets
Töchtern vor vielen Jahren starb, nahm Cems Tochter Türkan mit Billigung ihres
Vaters die Stelle der Verstorbenen ein. Sie wurde zu Mehmet nach Deutschland
geschickt, »weil sie es besser haben sollte.« Türkan hieß in Deutschland fortan
Gülsüm und spielte ihre neue Rolle mit großem Geschick und Erfolg.
Mit dieser Überraschung wartete Chili beim nächsten
Meeting im Präsidium auf.
Ottakring hatte ihr eingeschärft, die Quelle, aus der sie die
Information hatte, nicht offenzulegen.
Was sich fast exakt zu dieser Stunde im Wohnstift Grandis abspielte,
konnte keiner der Anwesenden auch nur im Entferntesten ahnen oder vermuten.
ZWEI
Beim Eingang zur geschlossenen Abteilung im Wohnstift
Grandis handelte es sich um eine Schließtür mit Sicherheitsglas und Sicherheitsschloss.
Wer keinen Schlüssel hatte, konnte nicht hinein und vor allem nicht heraus.
Der Moserin war dieser Umstand absolut bewusst. In der letzten Nacht –
nach einem kurzen, heftigen Beischlaf – hatte sie das Problem mit Adlmayer
besprochen.
Gemeinsam waren sie zu einer Lösung gekommen.
Der Adlmayer hatte ein – wie man so treffend sagt –
bewegtes Leben hinter sich. Er war Franzose und stammte aus dem Elsass. Deshalb
wäre sein Name korrekterweise auf der letzten Silbe betont worden: Adlma –
yähr.
Doch hier war er nur der Adlmayer. Hier wurde bayerisch gesprochen.
Instabiles Elternhaus, Schulabbruch, Transportarbeiter beim Zirkus,
mit dem er umherzog. Das war sein Leben, bis er vierzehn war. Schon damals
besaß er den Körper, die Größe und die Kraft eines erwachsenen Gorillas. Mehr
als ein halber Meter Bizepsumfang, ein Meter an den Oberschenkeln. Adlmayer sah
früh
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