Grabmoosalm (German Edition)
schon wie ein Monster aus.
Er war neunzehn, als der Zirkus seine Zelte in Nürnberg aufschlug,
und Adlmayer fuhr in einem Autoscooter im Kreis herum, als ihn der Leiter einer
Catcherbude entdeckte.
»He, unser Zelt steht dahinten. Komm doch mal mit.«
Mitten in der Nacht trat er gegen den Star der Truppe, den Aserbaidschaner
Zangilan, in den Ring. Am Ende der ersten Runde lag Zangilan – der in
Wirklichkeit Josef Sauprügl hieß und aus Straubing stammte – mit dem
Rücken auf der Matte. Innerhalb weniger Tage hatte die Catcherbude ein neues
Vorzeigemodell: Adlmayer.
Sie tauften ihn I. K. Staatenlos.
Im besten Catcher-Alter, mit dreißig Jahren, wurde I. K. Staatenlos in die USA geholt und kämpfte in der World Wrestling Federation um mehrere Titel. Nach
zehn Jahren war er fertig. In seinem letzten Fight im Madison Square Garden
stürzte er außerhalb des Rings unglücklich auf den Rücken und wurde
aussortiert.
Privat wie beruflich fiel er damals zuerst in ein tiefes Loch, doch
kam er bald wieder auf die Beine, bevor es zu spät war. Zurück in Deutschland
wurde Adlmayer Fotomodel für Nahrungsergänzungsmittel, Autoreifen und einen
Erotikclub.
Einiges an Ersparnissen hatte sich angehäuft, und er konnte sich
damit zunächst gut über Wasser halten. Bis sein Langzeitgedächtnis mehr und
mehr schwand. Die Alzheimer-Krankheit begann seine Erinnerungen nach und nach
brutal auszuradieren. Irgendwann wurde er tagsüber in der Innenstadt von
Rosenheim aufgesammelt, als er ratlos vor einer Anwaltskanzlei stand.
Er wusste nicht, warum er davorstand, wusste nicht, warum er sich in
Rosenheim aufhielt und wie er dort hingekommen war. Dem großen, stattlichen
Mann, den er noch immer darstellte, fehlte so gut wie jeglicher Bezug zu seiner
eigenen Vergangenheit. Dass er leidlich gut Englisch sprach und spärlich
Bewegungen nachmachen konnte, die nur einer kennt, der aus dem Wrestling-Zirkus
kommt, half ihm weiter. Mit seinem letzten Geld landete er im Grandis.
Dort lernte er die Moserin kennen und grub etwas aus, was bis dahin
längst verschüttet gewesen war: seine Sexualität.
In diesem frühen Morgen wandte sich Adlmayer nach dem Sex der
Betrachtung des Kühlschranks im Casino zu.
Früher hatte das Gerät in strahlendem Weiß geglänzt – aber das
war lange her. Es war von einer dünnen Fettschicht ummantelt, was das Greifen
schwierig gestalten sollte.
Der Flur, der zur Schließtür führte, lag wie immer im Halbdunkel.
Es roch nach Kaffee und Schuxn, dem oberbayerischen
Nationalnachmittagsschmalzgebäck.
»Die Dings«, flüsterte ihm die Moserin zu. »Die Dings. Die Betreuerin.«
Überrascht legte Adlmayer eine Fingerkuppe an die Nase, überlegte
kurz und nickte.
Auf Zehenspitzen schlich er hinaus und die paar Meter bis zur
übernächsten Tür links. Sie war halb geöffnet und gehörte zum Büro der
diensthabenden Betreuerin.
»Frau Wermuth«, so war auf dem Schildchen auf der rechten
Brust der Betreuerin zu lesen. Frau Wermuth blätterte in der »Bunten«. Alles
war ruhig.
Das tat sie am liebsten, wenn es ruhig war im Betrieb. Sich mit dem
Seelen-, Innen- und Außenleben der Schönen und Reichen und Mächtigen zu
beschäftigen. Das mochte sie. Oft bekam sie dabei Sehnsucht nach einem Mann.
Ihr eigener war vor fünf Monaten abgehauen. Danach hatte sie keine Männer mehr
angeschaut. Sie hatte die Faxen dick gehabt.
Aber ganz ohne Mann?
Sie hatte die Füße auf den kalten Heizkörper vor sich gelegt, sah
aus dem Fenster und lächelte schmal. Links neben ihr an der kahlen weißen Wand
das Bett, einen Meter zwanzig breit. Rechts neben ihr der Holztisch mit
Spitzendecke aus dem Nachlass ihrer Mutter. Sie würde ihn bald waschen müssen
wegen der Kaffeeflecken. Der Holzstuhl, auf dem sie saß, quietschte ein wenig
beim Schaukeln.
Die Unruh.
Sie hatte die Unruh nie wirklich gemocht.
Eine berechnende Person, nur auf den eigenen Vorteil bedacht.
Aber sie deswegen umbringen? Nie! Sie glaubte auch nicht, dass die
Unruh von jemandem aus dem eigenen Haus umgebracht worden war. Wer hätte es tun
sollen? Es gab niemanden. Der Adlmayer vielleicht, der wäre brutal genug. Doch
warum hätte er sie umbringen sollen?
Eine Spinne.
Frau Wermuth spürte, wie eine Spinne auf ihrem nackten Unterarm
krabbelte. Es interessierte sie, wie die Spinne auf ihren Arm gekommen war.
Nicht, wie sie die Spinne wieder loswerden könnte. Sie stellte den Unterarm
senkrecht. Sie wollte sehen, ob die Spinne auch bergauf
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