Grabmoosalm (German Edition)
begreifen, dass dieser Mann ihr nicht an
die Wäsche wollte. Ihre weiteren Antworten erfolgten geordneter und weniger
süffisant.
»Ja. Ich hatte ein weißes Laken drübergezogen. Für mich habe ich
eine weiße Bettdecke benutzt, die von Gülsüm war gemustert. Sie mochte diese
Decken mit Blumenmustern. Sie hat keine anderen genommen.«
»Kopfkissen?«, fragte Rico etwas schroff.
»Zwei«, erwiderte Ether ebenso knapp. »Ich ein weißes. Gülsüm …
weiß ich nicht mehr.«
»Okay, vielen Dank, Frau Hastemir …«
»Hehehehehe. Esther, oder?«
»Na gut. Gerne, Esther. Hat Ihre Schwester in dieser Nacht gefroren?
Slip und BH sind nicht gerade viel für eine Nacht
bei knapp über Null. In dieser Nacht ist es kalt gewesen.«
Die junge Frau sah ihn aus großen Augen an. Um ihren Mund spielte
ein Lächeln.
Die vollen roten Lippen fielen Rico erst jetzt auf. Vielleicht hatte
er doch den falschen Beruf ergriffen? Als Benediktinermönch wäre er nicht
solchen Skrupeln ausgesetzt. Er setzte sich kerzengerade hin und riss sich
zusammen. Wie kam es, dass diese junge Frau so kurz nach dem grausamen Tod
ihrer Schwester so cool, ja fast ausgelassen war?
»Ob Gülsüm gefroren hat, möchten Sie wissen? Ja, ich erinnere mich
gut. Mitten in der Nacht war sie aufgestanden und hat sich ihren Bademantel
angezogen. Mit dem legte sie sich dann wieder hin.«
»Mitten in der Nacht?«, fragte Rico, hellhörig geworden. »Können Sie
sich an eine Uhrzeit erinnern?«
Esther zögerte keine Sekunde. »Ja, das war kurz nach Mitternacht.
Ich weiß es so genau, weil ich … na ja, so halt.«
Rico hielt es für besser, nicht nachzufragen. Wenn es passte, wollte
er die Frau nach ihrem Verhältnis zu ihrer Schwester fragen.
»Wo schlief denn eigentlich das Kind? Das Kind hatte sie doch sicher
dabei, oder?«
»Das hatte ein eigenes Bettchen im Schlafzimmer.«
»Aha. Sagen Sie, trug Dömsül auch nachts ihren Schmuck? Oder hat sie
den jedes Mal abgelegt?«
Ein ungehaltener Ausdruck legte sich über Esthers Miene.
»Gülsüm, bitte. Ist doch wohl nicht so schwer. Gülsüm. Und ja.
Bestimmte Stücke legte sie nie ab.«
Rico griff nach einer kleinen Plastiktüte und schüttete den Inhalt
auf den Tisch. Es waren vier Schmuckstücke, die bei Gülsüm gefunden worden
waren. Bunt glitzernder Modeschmuck, nichts von Wert.
Im selben Augenblick wich alles Blut aus den Wangen der jungen Frau
vor ihm. Sie zuckte sichtbar zusammen, ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Ja, das ist es, was sie ständig getragen hat … das war ihr …
ihr …« Ihre Stimme erstickte unter Tränen.
»Ihr Schmuck?«, fragte Rico.
Sie nickte heftig und holte ein Päckchen Taschentücher aus ihrem
Rucksack.
Rico Stahl erhob sich. Er tat es langsam, um die Zeugin nicht
unnötig zu erschrecken.
»Fühlen Sie sich in der Lage, einige Gegenstände anzuschauen und zu
identifizieren?«
Ihre Tränen waren echt. Die Trauer, die aus ihnen zu lesen war,
ebenfalls.
Esther nickte und wischte sich mit dem Handrücken die letzten Tränen
von den Augen. »Es geht schon wieder.«
»Kommen Sie«, sagte Rico. »Ich muss Ihnen etwas zeigen.«
Er führte sie in einen Nebenraum. Dort lagen ein blutbefleckter
cremefarbener Bademantel, ein blutdurchtränktes Handtuch, blutbeschmiertes
Bettzeug, ein Stück helle Auslegware, mehrere Matratzenteile und ein Stück
gemusterter Plastikvorhang.
Rico hatte erwartet, dass die junge Frau zusammenbrach. Doch Esther
zeigte sofort auf den geblümten Bettbezug.
»Kennen Sie den?«, fragte Rico.
»Ja, das ist die Zudecke von Gülsüm gewesen. Genau die. Das
Kopfkissen?«
Sie war näher an die Sachen herangetreten, beugte sich darüber,
berührte sie aber nicht.
»Weiß ich nicht mehr, welchen Bezug genau Gülsüm in dieser Nacht
hatte. Der Bademantel gehört eindeutig meiner Schwester. Ich sehe es auch an
dem Gürtel, der ist in der Mitte ausgefranst. Der Schaumstoff könnte von unserer
Matratze stammen. Das Teppichzeug kenne ich nicht, auch nicht den Duschvorhang.
Diese Teile gehören nicht zu uns.«
Rico Stahl schwieg. Er stand da in seinem Magentahemd, hatte die
Hände in den Taschen seiner dunklen Hose vergraben und blickte nachdenklich auf
Esther herab. Sie hatte sich seit Beginn ihres Gesprächs verändert. Von einer
forschen, beinahe aggressiven Person zu einer nachdenklichen, kooperativen
Zeugin.
Von einer Sekunde auf die andere änderte sich das erneut.
»Was haben Sie da eigentlich für ein Kitschhemd an?«, rief sie
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