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Grabmoosalm (German Edition)

Grabmoosalm (German Edition)

Titel: Grabmoosalm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannsdieter Loy
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krabbelt.
    Beim Betrachten wurde ihr Lächeln breiter.
    Eine Sekunde später erlosch ihr Lächeln.
    Es erstickte unter etwas Kaltem, das sich über ihren Mund legte.
    Sie wollte schreien. Laut schreien. Aber es ging nicht.
    Der Arm, an dem die Spinne kletterte, wurde mit dem anderen Arm
zusammengebunden. Kurz danach die Beine.
    Sie spürte fremde Hände, die fest zupackten.
    Männerhände.
    Ging es jetzt mit ihr auch zu Ende, so wie mit der Unruh?
    Arme und Beine wurden mit dem Stuhl verbunden.
    Sie konnte aus dem Fenster sehen, sonst aber sah sie nichts. Umzudrehen
wagte sie sich nicht.
    Dann war alles wieder ruhig.
    Sie bekam mit, wie die Tür geschlossen wurde. Dann das Drehen des
Schlüssels im Schloss der massiven Tür. Und dann undeutliche Geräusche.
Stimmen, die sich bemühten, unhörbar zu sein.
    Gott sei Dank, sie lebte noch.
    Es hatte eine halbe Minute gedauert, bis der Adlmayer die
Frau an den Stuhl gefesselt und ihr den Mund mit Tape zugeklebt hatte. Danach
rieb er sich die Hände, betrachtete sein Kunstwerk noch einmal und schloss die
Tür von außen ab.
    Die Moserin war den Flur entlanggegangen und hatte lautlos die Türen
der anderen Bewohner geschlossen. Im eigenen Zimmer, dem neben der Gretl
Ottakring, stand ihr Rucksack bereit, in den sie die wichtigsten Utensilien
gepackt hatte. Wirklich nur die wichtigsten, denn sie würde das Zeug eine Weile
zu schleppen haben. Zahnbürste, Unterwäsche, Wasserflasche, solche Sachen. Und
ihr Kopfkissen, darauf wollte sie nicht verzichten.
    Mit Jeans statt ihrem Kaftankleid war sie hier im Grandis noch nie
gesehen worden. Doch die hatte sie kurz entschlossen angezogen, sie waren für
ihre Zwecke praktischer. Eine Bluse, ein Pulli und den Anorak für alle Fälle,
das war’s.
    »Wollen wir?«, rief sie mit verhaltener Stimme.
    Der Adlmayer hatte die letzten Minuten gespannt wie bei einem
Titelkampf hinter dem Kühlschrank verharrt. Seine Glatze glänzte, und Schweiß
drang ihm aus allen Poren. Die Augen leuchteten wie kleine Scheinwerfer.
    Der Adlmayer fuhr sich mit den Fingerspitzen über die behaarte Brust
unter der rot-weiß gestreiften Trainingsjacke und schnaufte tief durch. Dann
ging er in die Kniebeuge und umfasste den Kühlschrank mit beiden Armen. Er
reckte den mächtigen Körper, streckte die Knie durch – und wuchtete
ächzend das Gerät in die Höhe. Mit einem gewaltigen Ruck beförderte er es in
einem Schwung wie ein Gewichtheber nach oben. Selbst der superstarke Adlmayer
wankte hin und her, bis er endgültigen Halt fand. Schweißgeruch drang durch
seine Sportkleidung und füllte den Flur.
    Die Moserin hielt beide Hände vor den Mund. Presste die Fingernägel
in die Lippen, um nicht zu schreien. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie
auf den Mann mit dem Kühlschrank. Würde er das Gewicht tragen können? Würde er
ihn werfen wie ein Geschoss? Hätte Schwester Clara sie gesehen, sie wäre in Ohnmacht
gefallen.
    Fasziniert betrachtete sie einen Moment lang die alte Narbe an
seinem Arm. Die Wunde musste von seinen Kämpfen stammen. Sie war irgendwann
verheilt, aber die Narbe war gewachsen, Sprosse für Sprosse, wie eine
ausziehbare Feuerleiter.
    Der Adlmayer stand wie eine Statue. Seine Nackenmuskeln waren kurz
davor zu platzen. Er wankte nicht, auch das Zittern seiner Arme war vorüber.
Verschmitzt wie ein kleiner Bub bei einem lustigen Streich schaute er die
Moserin an, stieß einen monströsen Schrei aus, nahm Anlauf – und rannte
polternd auf die verschlossene Eingangstür zu.
    »Uuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuaaaaaaaaaaaaaaaaahhhhh!«
    Im letzten Augenblick neigte sich der Kühlschrank vor Adlmayers
Brust nach vorn. Im Sinken schlug er in Schräglage mit der Oberkante voran auf
dem Eingangsportal auf. Es gab ein höllisch lautes Knirschen und Scheppern.
    Die Moserin schrie auf.
    Holz zerriss, Glas splitterte in kleine und winzige Schnitzel und
Fetzen.
    Wie das weit aufgesperrte schwarze Maul eines Urwelttiers hatte sich
ein gigantisches Loch geöffnet.
    Der Adlmayer kreischte vor Triumph und zeigte den aufgerichteten
Mittelfinger.
    »Da hast du’s, du Schlampe! Nie hast du mir geglaubt!«
    Bei jedem Wort spuckte er Blut und Speichel auf den Boden. Weiße
Wolken schienen aus seinem Mund zu kommen.
    Die Moserin röhrte auf. Lachend, schluchzend, zähneklappernd klemmte
sie die Daumen unter die Rucksackträger, kletterte durch das Loch und erreichte
die andere Seite der geschlossenen Abteilung.
    »Verschwinde!«, schrie der Adlmayer. »Verschwinde, du

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