Graciana - Das Rätsel der Perle
wünscht«, sagte er mit einem Seufzer und bedeutete Ludo und Arlette, zu beiden Seiten des Paares vor dem Altar zu erscheinen.
Kérven strich über Gracianas Haar, ehe er nach ihrer Hand griff und sie Seite an Seite vor dem steinernen Kreuz von Lunaudaie niederknieten. Graciana spürte nur diesen Griff. Die Wärme, die von dort durch ihren ganzen Körper rieselte, und die unendliche Erleichterung, die sich gleichzeitig in ihr verbreitete.
Welch unwirkliche Szene! Durch die offenen Fensterschlitze der eiskalten Kapelle wehte der nächtliche Nebel herein. Das goldene Licht der flackernden Kerzen fiel über die fünf Menschen, die sich eingefunden hatten, um vor dem Angesicht des Herrn eine Liebe zu segnen, die über alle Missverständnisse gesiegt hatte. Pater Raoul segnete den Bund in unziemlicher Hast, ein wenig so, als traue er dem Frieden nicht, der nun nach all dem Streit und Geschrei über das kleine Gotteshaus gesunken war.
Graciana hörte Kérvens »Ja!« und ihre eigene Stimme klang stark und kräftig, als sie ihm antwortete. In Ermangelung eines Eheringes zog der Herr von Lunaudaie seinen Siegelring vom Finger und streifte ihn über Gracianas Hand. Er musste die Finger darum schließen, damit sie ihn nicht verlor.
»Gott segne Euch, meine Kinder!«, sagte Pater Raoul mit hörbarer Erleichterung. »Ich nehme an, Ihr wollt nun die Nacht nicht mehr im Gebet in der Kapelle verbringen, Seigneur?«, fügte er mit leisem Spott hinzu.
Kérven legte seinen Arm um Graciana und zog sie sacht an sich. Noch konnte er selbst nicht fassen, was gerade passiert war, dass Graciana ihm nun für immer und ewig gehörte. Dann blickte er den Pater an.
»Wir werden dem Herrn morgen beim Gottesdienst danken, Pater Raoul! Aber seid bedankt für Eure Geduld und Euer Verständnis. Wir werden versuchen, sie künftig auf Lunaudaie nicht mehr derart zu strapazieren!«
Er spürte Gracianas Frösteln und entdeckte zum ersten Mal die bloßen Füße unter dem Saum ihres Hausmantels. Sie war nicht nur halbnackt, sie trug auch keine Schuhe!
»Zum Henker! Du musst halb erfroren sein, du närrisches Ding!«, schimpfte er und hob sie auf die Arme. »Warum trägst du keine Schuhe? Du bist barfuß zur Gräfin von Lunaudaie geworden!«
»Besser barfuß als gar nicht!«, entgegnete Graciana übermütig und schmiegte ihren Kopf an seine Schulter, während er sie davontrug. Die Müdigkeit drohte sie zu übermannen, während sie dem Priester ein letztes Lächeln schenkte. »Gute Nacht, Pater Raoul!«
Arlette und Ludo liefen hinter dem Paar her wie zwei kleine Hündchen, sichtlich überwältigt von dem Aufruhr der Gefühle und der Zeremonie, deren Zeugen sie geworden waren.
Vor der Herrschaftskammer drehte sich Kérven des Iles jedoch um und betrachtete die beiden mit einem leisen Lächeln.
»Wir benötigen euch nicht mehr. Habt Dank für eure Dienste und eure Treue. Geht schlafen, morgen ist auch ein Tag ...«
25. Kapitel
Graciana konnte im ersten Moment nicht sagen, was sie geweckt hatte. Sie blieb mit geschlossenen Augen liegen und versuchte sich zurechtzufinden. Die Tage ihrer Abenteuer hatten sie gelehrt, aus Kleinigkeiten Rückschlüsse zu ziehen. Nun denn, sie lag auf einer himmlisch weichen Matratze, begraben unter Decken und Federbetten in wohliger Wärme. Sie hatte vergessen, ihre Haare zu flechten, denn wilde Strähnen fielen ihr halb ins Gesicht, und ein schweres Gewicht lag halb auf ihr. Sie trug ein seidiges Hemd mit langen Ärmeln, und ihre so kälteempfindlichen Füße schmiegten sich an einen gewärmten Ziegelstein. Doch ...
Das war kein Ziegelstein, das war Haut! Behaarte Männerbeine! Graciana riss die Augen auf und sah direkt in Kérvens Gesicht. Halb auf seinen Arm gestützt, betrachtete er sie in konzentriertem Ernst. Mit einem Schlag wurden alle Erinnerungen wach. Er gehörte ihr! Er konnte nicht mehr weglaufen! Oder etwa doch?
»Nein, du hast es nicht geträumt!« Kérven entdeckte, dass er wieder in ihrem ausdrucksvollen Gesicht lesen konnte. »Es ist wahr! Du hast mich zu einer Heirat gezwungen, die ich um jeden Preis vermeiden wollte! Du hast meine Welt auf den Kopf gestellt!«
Graciana suchte in den blauen Augen nach einem Lächeln, doch sie fand nur gespannte Wachsamkeit. Tiefen Ernst und etwas Neues, Fremdes, das vorher nicht da gewesen war.
»Was werdet Ihr jetzt tun?«, flüsterte sie und schluckte trocken. Sie hatte gekämpft, geschrien und geliebt, aber hatte es gereicht? Oder musste sie nun,
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