Graciana - Das Rätsel der Perle
Leinenhaube gekleidet. Aus ihrem runden Gesicht blitzten neugierige, hellblaue Augen. Ihre ganze Haltung drückte eine gewisse Autorität aus. Sie war es offensichtlich gewohnt, widerspenstige Mädchen zur Arbeit anzuhalten.
Graciana schluckte. Sie musste sich erst räuspern, denn sie traute ihrer eigenen Stimme nicht, und ihr Dank klang kaum hörbar. Die Frau runzelte die Stirn.
»Hat er dich etwa geschlagen?«
»Aber nein!« Graciana fuhr auf. Ihre Gefühle für Kérven des Iles mochten höchst gemischt sein, aber trotz allem wollte sie nicht, dass man ihn in dieser Burg, in der er zu Gast war, für einen Barbaren hielt. »Wie kommt Ihr darauf?«
»Hat dir noch niemand gesagt, dass man in deinem Gesicht lesen kann, Mädchen?« Die Dienerin ließ ihre Arme sinken und deutete dann mit einer Kopfbewegung auf ein Tablett, das auf dem Tisch stand. »Du solltest essen. Ein voller Magen hilft unsereinem über vieles hinweg!«
Graciana versuchte, das Laken um sich zu drapieren, als sie aufstand. Mit ihrem scharfen Blick hatte die Dienerin, kaum dass Graciana sich erhob, die verräterischen Zeichen auf dem Bett erkannt.
»Das erste Mal? Tsts ... mein armes Lämmchen!«, murmelte sie mitfühlend und schüttelte den Kopf. »Kein Wunder, dass du dreinschaust, als hätte man dich dem Henker überantwortet. Versteh einer die Männer und erst recht die hohen Herren. Man könnte meinen, sie halten einfache Mädchen für Freiwild ...«
Graciana begriff, dass die Frau gar keine Antwort von ihr erwartete, denn die Dienerin redete unentwegt weiter. Sie kümmerte sich um alles.
»Hier, wasch dich zuerst«, riet sie und schubste Graciana zum vergessenen Badezuber. »Das Wasser wird kalt sein, aber danach fühlst du dich besser. Hoffentlich lässt dich der Seigneur jetzt erst einmal eine Weile in Frieden. So ... und jetzt das Hemd ...«
Graciana schlüpfte gehorsam in ein weiches Leinenhemd, das vom vielen Waschen schon dünn war, aber dennoch seidenweich und wundervoll sanft über ihren Körper glitt. Ihre gute Fee zupfte mit energischen Fingern die Schulternähte zurecht und schloss die Kordeln über den Brüsten. Die weiten Ärmel hatten ebenfalls einen Bandverschluss.
»Meine Güte, deine Haare sehen aus, als wären sie noch nie mit einem Kamm in Berührung gekommen«, fuhr sie dann fort und betrachtete missbilligend Gracianas zerzauste Locken. »Iss jetzt, ich werde mich inzwischen um deine Haare kümmern ...«
Zögernd nahm Graciana auf dem gepolsterten Hocker Platz und griff nach den Gebäckstücken, die auf einen hölzernen Teller gehäuft waren und verlockend dufteten. Daneben gab es Scheiben kalten Fleisches, ein knusprig gebratenes Hühnerbein, eingelegte Heringe und einen Teller mit wundervollen hellgrünen Weintrauben. Für die Verhältnisse von Josselin ein höchst bescheidener Imbiss, aber Graciana hatte noch nie so viele Köstlichkeiten auf einem Fleck gesehen und schon gar nicht probiert.
Die Gebäckstücke entpuppten sich als köstlich gefüllte Pasteten, unter deren dünner Teighülle sich gehacktes Fleisch, gemischte Kräuter und frische Nüsse verbargen. Sie aß mit winzigen Bissen, um den Genuss, so lange es ging, hinauszuzögern, obwohl mit jedem Bissen ihr Hunger größer wurde. Gab es Menschen, die dergleichen jeden Tag aßen?
»Greif zu«, ermunterte die freundliche Dienerin sie, die sich über ihre Bescheidenheit wunderte. »Wenn es nicht reicht, kann ich jederzeit noch etwas für dich holen. Dame Marguerite ist eine strenge, aber sehr gütige Herrin. Sie achtet darauf, dass auch die Dienerschaft gut ernährt wird, denn sie sagt, dass nur ein fröhlicher Mensch auch seine Arbeit vernünftig tun kann!«
Graciana vernahm staunend, dass es überhaupt so etwas wie Lebensfreude gab. Die gleichmäßigen Bürstenstriche und das freundliche Geplauder der Dienerin beruhigten sie, versetzten sie in einen fast schon schläfrigen Zustand.
»Was für wundervolle Haare du hast«, hörte sie die Frau staunend sagen. »Sie fühlen sich an wie lebendige Seide. Sogar unsere Herrin würde dich um diesen üppigen Schmuck beneiden!«
Ihr Haar ein Schmuck? Graciana hatte es bisher ausschließlich als Last betrachtet. Als Ärgernis, das sich ständig wieder befreien wollte, wenn man es zu strengen Zöpfen flocht und unter der Haube feststecken wollte. Als Opfer, das man vor den Altar legte, ehe man den Schleier nahm. Die Vorstellung, dass es eines Tages abgeschnitten werden würde, hatte sie dennoch immer
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