Graciana - Das Rätsel der Perle
freundliche Frau. »Wenn Ihr mich noch einmal braucht, fragt den Haushofmeister nach Ernestine. Gott befohlen, und eine gute Nacht wünsche ich Euch!«
Niemand antwortete ihr. Graciana blickte angestrengt auf ihre gefalteten Hände, die nun sauber, blass und seltsam zerbrechlich wirkten. Die herabfließenden Haare verbargen ihren Gesichtsausdruck, und der Seigneur schwankte zwischen Erleichterung und Unmut darüber. Hielt sie ihn nicht für wichtig genug, um ihn anzusehen, oder hatte sie noch immer diese unsinnige Angst vor ihm?
»Es tut mir leid«, sagte er nun mit einem Seufzer.
Ein reichhaltiges Mahl und tödliche Müdigkeit dämpften sein aufbrausendes Temperament. Im Grunde wollte er jetzt nur noch in den Alkoven kriechen und für ein paar Stunden vergessen, dass er lebte. Am liebsten natürlich in zärtlichen Armen, aber er hatte nicht mehr den Willen, darum zu kämpfen.
»Was tut Euch leid? Dass Ihr mich belogen habt?« Graciana wollt es genau wissen.
Kérven stöhnte leise auf. »Du hättest mir sagen müssen, dass ich dein erster Mann bin. Ich kann dir nur eines versichern, du wirst diesen Schmerz kein zweites Mal erleiden. Er bleibt keinem Mädchen erspart, das zur Frau wird, aber ich hätte dich mit Sicherheit sanfter behandelt, wenn du ehrlich gewesen wärst.«
»Ehrlich?« Graciana brauste auf. »Ich habe nicht gelogen! Ich hatte keine Ahnung, was Ihr tun wolltet! Ihr habt mir gesagt, ich könne Euch vertrauen!«
War sie wirklich so naiv, oder wollte sie doch wieder mit ihm streiten?
»Komm zu Bett, es ist schrecklich spät, und ich möchte bei Sonnenaufgang aufbrechen ...«
»Zu Bett?«
Gracianas Augen flogen zu den zerwühlten Decken des Alkovens, und das blanke Entsetzen über diesen Vorschlag war von ihren Zügen abzulesen.
»Gott ist mein Zeuge, dass ich dich nicht anrühren werde!« Der Seigneur gähnte und schlüpfte aus seinem Wams. »Mach, was du willst, aber ich habe seit Tagen keine zwei Stunden am Stück die Augen geschlossen. Ich bin unendlich müde, ich möchte nur noch schlafen!«
Er kroch nackt unter die Decken, rollte sich auf eine Seite und schloss die Augen. Teils, weil er gar nicht anders konnte. Teils, weil er der Versuchung widerstehen wollte, die Gracianas Anblick für ihn darstellte. Tief in seinem Herzen wusste er, dass es ihn auch jetzt noch danach verlangte, sich in ihr zu verlieren, aber die Erschöpfung hielt ihn fest genug in ihren Klauen, dass er dieser Sehnsucht widerstand.
Graciana blieb sitzen und lauschte mit angehaltener Luft seinen schweren, regelmäßigen Atemzügen. Er schlief tatsächlich schon ...
Leise erhob sie sich und löschte die Kerzen. Die Glut im Kamin gab genügend Licht, damit sie die Stufe zum Alkoven fand. Sie sank in die Knie und legte das Antlitz in die gefalteten Hände, doch die Worte des Nachtgebets wollten ihr nicht einfallen. Sie war über Bitten, Ängste und Flehen hinaus. Die vertrauten Gesten schenkten ihr keinen Trost und der Gedanke an den Himmel keinen Frieden.
Graciana hob den Kopf. Ihre Augen hatten sich mittlerweile an die sanfte Dunkelheit gewöhnt. Sie erkannte den Umriss der breiten Schultern, den glatten Rücken, und irgendwie erfasste sie ein Gefühl der Unwirklichkeit. Hatte sich tatsächlich an nur einem Tag ihre gesamte Welt verändert?
Ihr schmerzender Kopf fand keine Antwort darauf, und schließlich erhob sie sich. Sie kletterte auf das hohe Bett hinauf, wickelte sich in den Rest der Decke und schloss nun auch die Augen.
Die Scheite im Kamin knisterten und knackten leise, der Atem des Mannes neben ihr klang regelmäßig und ruhig, ihr eigener Seufzer verlor sich im Knistern des gestärkten Leinens. Daran gewöhnt, ihre karge Zelle mit anderen Novizinnen zu teilen, war es schließlich gerade Kérvens Gegenwart, die ihre zitternden Nerven beruhigte und sie in einen tiefen Schlummer gleiten ließ. Was auch geschehen würde, sie war nicht allein.
6. Kapitel
Sie stand so nahe an den Flammen, dass ihre Haut glühte. Um sie herum barsten die Mauern, und die Schreie der Sterbenden gellten in ihren Ohren. Gegenüber, genau hinter den Flammen, stand der Mann mit dem Schwert. Ganz in Schwarz gekleidet, die lodernden Augen in teuflischer Genugtuung auf ihre Gestalt gerichtet.
Graciana hasste ihn. Sie hasste ihn mit solcher Inbrunst, dass ihr ganzer Körper bebte und sie alles andere um sich herum vergaß. Den selbst ernannten Herzog von St. Cado schien ihre Empörung jedoch nur zu amüsieren. Er lachte, während rings
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