Graciana - Das Rätsel der Perle
gestört.
Jetzt kam es ihr vor, als sei es eine federleichte Wolke, die ihre eigene Haut streichelte, wo die Strähnen über ein Stück bloße Schulter glitten. Unwillkürlich schaute sie zur Seite und sah, dass das Licht der Kerzenflammen Reflexe in ihr Haar setzte.
Es sah hübsch aus, und bei diesem Gedanken setzte sofort wieder das schlechte Gewissen ein. Die Sünde törichter Eitelkeit. Es tat nicht gut, der eigenen Erscheinung zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Mutter Elissa ...
Nein, Mutter Elissas Stimme würde sie nie wieder hören. Ihre Tante – wie neu und seltsam dieser Gedanke doch war! – hatte mit Sicherheit in den Mauern von Sainte Anne den Tod gefunden. Die strenge Äbtissin konnte sie nicht mehr für ihre leichtsinnigen Verfehlungen rügen. Sie würde ihr nie wieder eine Buße auferlegen. Nie wieder musste sie fünfzigmal hintereinander den Rosenkranz beten und auf Kieselsteinen knien, um für eine der vielen kleinen Sünden zu büßen, die ihr gar nicht bewusst geworden waren.
»Probier von den Trauben!«, riet ihr die Dienerin und rückte die Schale in ihre Griffweite. »Man hat sie gestern erst vom Ufer der Loire gebracht, und sie sind süßer als alles, was ich je gegessen habe. Hast du den Wein schon gekostet? Er ist ebenfalls von der Loire, und Madame Marguerite hofft, dass er dem Seigneur de Clisson mundet! Sie ist schrecklich aufgeregt, dass alles zu seiner Zufriedenheit ist, wenn er endlich kommt. Nun esst doch!«
»Du wirst mein Mädchen in ein Fass verwandeln«, sagte in diesem Moment eine Männerstimme, und Graciana fuhr mit einem leisen Laut der Überraschung auf ihrem Hocker herum.
Kérven des Iles stand in der Tür. Die Dame des Hauses hatte die Tafel in der Halle aufgehoben und sich zurückgezogen. Ihr Gast hatte es ihr nachgetan, obwohl er sich besorgt gefragt hatte, in welcher Stimmung er Graciana wohl antreffen würde. Zwar hatte er den Haushofmeister diskret gebeten, so gut wie möglich für das Wohl des Mädchens zu sorgen, aber nun war er doch überrascht, als er sah, dass die Dienerin sie wie eine Dame behandelte, auch darum blieb er einfach stehen und betrachtete staunend das Bild, das sich ihm bot.
In ein schlichtes, schneeweißes Hemd gekleidet, Trauben naschend und von einer knisternden Flut glänzender Haare umflossen, kam Graciana ihm vor wie eine zeitlose Vision von vollkommener Schönheit und Harmonie, wie die kostbare Illustration in einem Stundenbuch. Kein Vergleich zu der zerzausten Dirne, die sich nass und zitternd vor seine Füße geworfen hatte.
»Ich denke, die Gefahr besteht kaum, Messire«, antwortete die Dienerin mit einem leichten Vorwurf in der Stimme. »Dieses arme Kind ist so schmal, dass man meinen könnte, es habe die erste Hälfte seines Lebens nur gehungert. Ihr solltet sorgsamer mit ihr umgehen ...«
Gracianas Lippen zitterten leicht. Sie unterdrückte ein Lachen, weil ihre mütterliche Beschützerin den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Für die jungen Novizinnen von Sainte Anne waren die Näpfe nicht üppig gefüllt worden. Die Äbtissin hatte die Meinung vertreten, dass Enthaltsamkeit die Frömmigkeit förderte. Graciana hatte von ihrem zehnten Lebensjahr an das Schicksal der jungen Frauen geteilt, die eine Bewährungszeit im Kloster verbrachten, ehe sie endgültig und für immer den Schleier nahmen.
»Ich danke dir für deine Mühe«, entgegnete Kérven des Iles in diesem Moment mit einem spürbaren Unterton von Autorität. »Ebenso für die Anteilnahme, die du am Schicksal meiner kleinen Freundin nimmst. Sei versichert, dass ihr unter meinem Schutz kein Leid geschehen wird.«
Graciana spürte, dass die Ältere zögerte, sich dieser unverblümten Verabschiedung zu beugen, aber wenn sie eines gelernt hatte, dann war es, Macht zu respektieren. Die Dienerin hatte ihr Leben lang gehorcht. Und Graciana spürte instinktiv, dass es in diesem Moment auch für sie besser war, keinen weiteren Streit vom Zaun zu brechen. Sie konnte es sich nicht leisten, Kérven zu erzürnen. Nicht in ihrer Lage, wo sie nicht wusste, wie es mit ihr weitergehen sollte.
»Es ist gut«, flüsterte sie. »Ich danke Euch für Eure Mühen.«
Sie merkte nicht, dass sich sowohl die Dienerin als auch der Ritter über ihre unerwartete Fügsamkeit wunderten. Beide hatten sie anders eingeschätzt. Kérven hatte mit Schwierigkeiten gerechnet, sobald sie ihren Schock überwunden hatte, die mütterliche Dienerin mit einer Portion mehr Stolz.
»Nun gut«, erwiderte die
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