Graciana - Das Rätsel der Perle
in ihr, und Graciana konnte nichts anderes tun – und wollte es auch nicht – als sich dieser ungehemmten Verzückung zu überlassen. Kaum hatte Kérven sich schließlich von ihr gelöst, da fiel sie in einen tiefen Schlaf völliger Erschöpfung.
Ludo bekam große Augen, als er, wie befohlen, bei Sonnenaufgang das Gemach seines Herrn betrat und die eng aneinander geschmiegten Körper unter den Decken entdeckte. Ein schlankes, weißes Frauenbein erregte seine Aufmerksamkeit, aber im selben Moment warf Kérven des Iles bereits die Decke darüber. Hätte da nicht eine vorwitzige Strähne unter dem dunklen Pelz hervorgelugt, man hätte kaum vermuten können, dass der Herr nicht allein war. Graciana machte nicht die kleinste Bewegung.
Kérven stand auf und wusch sich flüchtig mit dem eiskalten Wasser, das Ludo mitgebracht hatte. Der Page wurde knallrot, als er die Spuren von Gracianas Fingernägeln entdeckte, und beeilte sich, mit fliegenden Fingern für die Garderobe seines Herrn zu sorgen. Der legte in aller Ruhe seine Kleider und einen leichten Harnisch an, ehe er nach seinem Umhang und dem Schwertgehänge griff.
»Gehen wir, Ludo!«
Der Junge lief voraus, und Kérven blieb an der Tür noch einmal stehen. Er verspürte den närrischen Wunsch, Graciana ein letztes Mal in die Arme zu nehmen. Ihr einen Kuss zu rauben, noch einmal über die hinreißenden Brüste zu streicheln und ... wie war es nur möglich, dass er nach dieser wilden Nacht schon wieder Verlangen verspürte?
Mit einem unwilligen Knurren tat er die eigenen Wünsche als Dummheiten ab und schritt hinaus. Das fehlte noch, dass er sich von einem Weib bei seinen Plänen behindern ließ, selbst wenn sie die personifizierte Verführung war. Kein Wunder, dass Adam im Paradies gesündigt hatte. Es wollte ihm scheinen, dass Graciana wie eine zweite Eva war.
Fiacre de Mar reichte ihm im Hof den Satteltrunk, und Kérven nahm einen ordentlichen Schluck des kühlen Weißweins, ehe er sich verabschiedete und die Zügel hob. Dann blickte er noch einmal über die Schulter zurück.
»Vergesst nicht, was ich Euch bezüglich der jungen Frau gesagt habe!«
»Selbstverständlich, Seigneur ...«
Der kleine Trupp mit Kérven an der Spitze und dem Knappen an seiner Seite polterte über die Zugbrücke und verschwand im Morgennebel.
»Was gibt es bezüglich der jungen Frau zu sagen?«, erkundigte sich Rose Melrand, die das bedeutende Amt der Haushälterin auf Lunaudaie inne hatte. »Wo kommt sie überhaupt her, und was stellt sie dar?«
»Die Geliebte des jungen Herrn«, entgegnete der Burgvogt seufzend, aber unmissverständlich. Es gefiel ihm nicht, dass er sich in Graciana so getäuscht hatte. Er hatte sie für fromm und ehrbar gehalten. »Und so lange er derart vernarrt in sie ist, solltest du sie mit Respekt behandeln, Rose. Frauen, die das Ohr ihres Seigneurs besitzen, haben eine gewisse Macht!«
»Eine Hure!« Die ehrbare Frau schnappte nach Luft und stemmte die Arme in die Hüften. »Wo hat er das Weib nur aufgetrieben? Sicher wird sie sich als Herrin aufspielen wollen!«
»Gehorche, dann wirst du keine Schwierigkeiten haben!«
»Euer Wort in Gottes Ohr, Messire«, schnaubte die entrüstete Matrone. »Das hat uns noch gefehlt in Lunaudaie. Erst die Eroberung, dann die fremden Soldaten und jetzt die Unzucht! Wo soll das noch enden?«
Fiacre de Mar ersparte sich eine Antwort. Rose Melrand gehörte nicht zu den Menschen, mit denen er seine Gedanken diskutierte. Dabei musste er ihr im Geheimen beipflichten. Kérven des Iles musste heiraten und Lunaudaie eine richtige Herrin schenken!
9. Kapitel
Das Bethaus befand sich im Untergeschoss des so genannten Kapellenturms. Von schweren, spitzen Gewölben getragen, bot es für die Menschen der Burg gerade ausreichend Platz, wenn sich alle eng zusammendrängten. Doch als Graciana eintrat und sich bekreuzigte, war der Raum leer. Das ewige Licht flackerte in tröstlicher Stetigkeit über dem Altar, und vor das schwere Granitkreuz mit der grob gehauenen Figur des gekreuzigten Heilands hatte jemand einen Kupferkrug mit bunten Herbstblumen gestellt.
Der Duft der Blumen mischte sich mit dem des Wachses und dem feuchtem Moderhauch der Mauern. Hier war schon lange kein Weihrauch mehr verbrannt worden, und bis auf das Steinkreuz entbehrte das Gotteshaus jeder Kostbarkeit. Graciana fragte sich unwillkürlich, ob dies eine Folge der Besatzung oder mangelnder Frömmigkeit war.
Sie sank im dämmerigen Schatten eines schweren
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