Graciana - Das Rätsel der Perle
Pfeilers in die Knie und faltete die Hände. In der Stille der kleinen Kirche konnte sie sogar die eigenen Atemzüge vernehmen. Wie viele Tage war es her, seit sie zum letzten Male vor der heiligen Anna gebetet hatte? Fünf? Sechs? Sieben oder sogar mehr als eine Woche? Sie wusste es nicht.
Und ihr waren auch die Worte der Gebete abhanden gekommen. Sie kam nicht über die ersten Zeilen des Ave Marias hinaus. Die vertraute Litanei vermochte sie nicht mehr zu beruhigen. Doch inzwischen war der Schock über all das, was seit dem Überfall auf das Kloster passiert war, ein wenig abgeklungen, und Graciana konnte wieder klarer denken. Mutter Elissa hatte sie gelehrt, erst zu denken und dann zu handeln, auch wenn sie diesen Grundsatz zwischendurch vergessen hatte.
Immer noch gefiel es ihr nicht, ganz allein unter Fremden zu sein, immer noch verfolgte sie der Schrecken des Angriffs der Söldner. Doch man konnte nicht ein Dutzend unwillige Mägde antreiben, mit der Haushälterin über die Notwendigkeit von Lauge und Bienenwachs debattieren und gleichzeitig bei jedem Laut zusammenzucken.
Die Tatsache, dass auch nach dem Abzug der Männer des Herrn von Blois, der ungefähr zwei Monate zurückliegen mochte, niemand einen Finger gerührt hatte, um die Folgen dieses »Besuchs« zu beseitigen, hatte Graciana einfach wütend gemacht. Mutter Elissa hätte eine solche Schlamperei niemals geduldet.
Die Schlachten, die sie täglich mit Rose Melrand austrug, rissen sie aus ihrer traurigen Lethargie. Eine so faule und nachlässige Person hatte sie noch nie erlebt. Lediglich die Küche, in der sie für sich und die Ihren kochte, machte einen halbwegs annehmbaren Eindruck, obwohl Graciana auch hier die Sauberkeit der Kupfertöpfe und die Schluderei in der Vorratskammer bemängelte.
»Der Seigneur hat mich gebeten, für Ordnung zu sorgen, und das werde ich tun!«
Dieser Satz wurde zu ihrem neuen Gebet und ersetzte das alte. Seit sie am Morgen nach seiner Abreise erwacht war und sich allein gefunden hatte, hielt sie sich an diesem Auftrag fest wie an einer stützenden Krücke. Sie arbeitete härter als jede Magd.
Am liebsten hätte sie selbst dabei mitgeholfen, die Wände in der großen Halle neu zu kalken, weil sich der Maler aus der Stadt zu viel Zeit dafür ließ. Sie hätte die Holzböden gewachst und Zinnleuchter poliert. Doch sie hatte genug damit zu tun, allen Säumigen auf die Finger zu sehen und zu überprüfen, ob und wie die angeordneten Arbeiten ausgeführt wurden. Sie war überall zugleich und scheuchte jeden unerbittlich. Da Fiacre de Mar diesen Wirbel an Aktivität offensichtlich duldete, wagte niemand, ihr zu widersprechen. Man murrte heimlich, und Graciana ahnte, dass hinter ihrem Rücken übel getratscht wurde.
Ein leises Knarzen im Hintergrund ließ sie plötzlich erstarren. Unwillkürlich rückte sie tiefer in den Schatten der Säule. Sie wollte nicht gesehen, nicht gestört werden. Aber auch die Eintretenden hielten sich weit hinten im Zwielicht, damit niemand sie entdeckte.
»Puuuh, ich spur’ meine Hände schon nicht mehr. Dieses ewige Geschrubbe ist schrecklich. Die Lauge zerfrisst einem regelrecht die Haut!«, hörte sie eine empörte schrille Stimme, die sie als jene der Magd Sophie erkannte, die unter ihrer Anleitung die Herrschaftskammer gesäubert hatte.
»In der Kapelle wird sie uns nicht suchen«, antwortete ihr eine kichernde zweite Stimme, die jung klang, aber von Graciana nicht eingeordnet werden konnte. »Man möchte meinen, unser neuer Herzog kommt zu Besuch, und sie will besondere Ehre bei ihm einlegen!«
»Ehre, beim Herzog?« Sophie klang betont spöttisch. »Denkst du, Seine Gnaden der Herzog gibt sich mit einer Dirne wie ihr ab?«
»Sag so etwas nicht laut!«
»Die Wahrheit darf man immer sagen, erst recht im Haus Gottes«, erwiderte Sophie gehässig. »Sie ist doch die Bettgenossin des Seigneurs, oder etwa nicht? Man hat sie schreien hören, so hat er sie geritten, in der Nacht, ehe er fort ist! Ich begreife nicht, warum wir uns von so einer schikanieren lassen sollen!«
»Du bist ja nur neidisch, weil du nicht an ihrer Stelle bist«, gab die andere zurück. »Gib’s zu, dass du schon früher ein Auge auf ihn geworfen hattest, als er noch ein hübscher Junge war!«
»Na und? Ich hätt’ wenigstens gewusst, wo mein Platz ist, und niemanden aus purem Hochmut geschunden. Diese Graciana ist von der schlimmsten Sorte! Sie stürzt einen ehrlichen Mann nur ins Unglück! Und so eine maßt
Weitere Kostenlose Bücher