Graciana - Das Rätsel der Perle
sich an, sittsame Frauen herumzukommandieren!«
Graciana schlug die Hand vor den Mund, damit ihr kein Laut entfloh. Starr vor Entsetzen lauschte sie dem bösartigen Klatsch, den die beiden Mägde genussvoll verbreiteten. Sie hatte nicht geahnt, wie missgünstig und gehässig andere Menschen sein konnten.
»Beruhige dich«, riet währenddessen die zweite Magd der wutschnaubenden Sophie. »Weiber wie die regieren nicht lang. Du kennst doch den Seigneur, er ist stolz, und der gute Name von Lunaudaie bedeutet ihm alles. Jetzt, wo er Graf geworden ist, wird er ohnehin bald heiraten. Eine edle Dame mit großer Mitgift. Was die mit einer Dirne wie dieser Graciana macht, kannst du dir vorstellen. Sie wird von Glück sagen können, wenn sie die Ställe ausmisten darf. Wenn die Dame indes klug genug ist, lässt sie das Weib auspeitschen, an den Pranger stellen und im Arbeitshaus den Flachs schlagen, bis sie blutige Hände bekommt.«
»Darum bete ich zur heiligen Jungfrau«, meinte Sophie kichernd. »Schneidet man Huren nicht auch die Haare ab? Das würde ich gern tun, dann kann sie nicht mehr so stolz mit ihren Zöpfen schwenken.«
Graciana zitterte am ganzen Körper. Sie brauchte all ihre Selbstbeherrschung, um nicht aufzuschreien. Was hatte sie diesen Mädchen getan? Auch im Kloster hatte es manchmal Auseinandersetzungen gegeben, kleine Bosheiten oder gar zwei Frauen, die sich einfach nicht vertrugen. Aber niemals hatte Graciana einen solchen hämischen Neid kennen gelernt. Es lähmte sie, widerte sie an. Was sollte sie tun? Wie sich dagegen wehren? Hassten sie denn alle in diesem Haus so schrecklich?
Immerhin führte das belauschte Gespräch dazu, dass sie die Menschen in ihrer Umgebung genauer betrachtete. Sie streifte die letzten Reste der naiven Unschuld ab, die sie noch besessen hatte, und versuchte sich mit den Regeln und Schwierigkeiten vertraut zu machen, die auf Lunaudaie herrschten. Ausgerechnet Fiacre de Mar, der strenge Großvater des Pagen Ludo, entpuppte sich dabei als unschätzbare Hilfe.
Graciana konnte nicht ahnen, dass er ihr insgeheim unendlich dankbar dafür war, wie sie Rose und die nachlässigen Mägde zur Arbeit antrieb. Es war eine Aufgabe, an der er selbst zuvor gescheitert war. Die junge Frau entdeckte im greisen Seigneur de Mar eine Güte und Lebensweisheit, wie sie sie vorher nie kennen gelernt hatte.
Instinktiv vertraute sie dem weißhaarigen Greis, in dessen Antlitz die Spuren tiefen Leides eingegraben waren. Sie hätte viel lieber einen Vater wie ihn gehabt und nicht jenen Teufel, der ihr behütetes Dasein so nachhaltig zerstört hatte. Einen Vater, dessen Namen man aussprechen konnte, ohne dass man sich für ihn schämen musste.
An Fiacre de Mar wandte sich Graciana auch wegen der leeren Fensterhöhlen. Sie verabscheute die Rahmen mit den Häuten, die zwar den gröbsten Wind abhielten, aber die Räume noch düsterer machten, als sie es ohnehin schon waren mit ihren dunklen Böden und Holzdecken.
»Was ist mit den Handwerkern in der Stadt?«, forschte sie. »Wäre es nicht auch für sie wichtig, wenn es in der Burg Arbeit und Lohn gibt? Glasermeister, Schreiner, Weber und Schmiede werden benötigt, auch ein Küfner und ein Steinmetz fänden genug zu tun. Ich denke, der Seigneur wird sich nicht mit Häuten vor den Fenstern zufrieden geben, und er schätzt vermutlich gepolsterte Stühle und Bänke. Auch der große Tisch in der Halle ist eine Schande, und im Keller gibt es kaum ganze Fässer!«
Fiacre warf ihr einen anerkennenden Blick zu. Er teilte ihre Einschätzung der Lage völlig. Doch es gab einen Punkt, der zuvor geklärt werden musste.
»Ihr seid sicher, dass der Seigneur sein Gold für derlei Dinge verwenden möchte? Kann es nicht sein, dass er auch die Waffenkammer im Auge hat? Schwerter, Lanzen und Hellebarden sind teuer!«
»Aber auf Schwertern lässt sich schlecht sitzen, und Hellebarden halten den Herbstwind nicht ab«, wandte Graciana ein. Sie war von einer Energie erfüllt, von der sie selbst nicht geahnt hatte, dass sie in ihr schlummerte. »Er hat mich gebeten, dafür zu sorgen, dass Lunaudaie bewohnbar ist. Wir werden es tun, natürlich mit allen Geboten der Sparsamkeit. Überflüssiger Luxus ist unnötig.«
»Mir soll’s recht sein«, meinte der Burgvogt schmunzelnd. »Ich werde Euch die Handwerker schicken, die Ihr benötigt, mein Kind!«
Er hatte sich ohne großes Überlegen zu dieser diplomatischen Anrede und dem respektvollen »Ihr« entschieden. Anders als
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