Graciana - Das Rätsel der Perle
»In dieser jungen Frau ist kein Hauch von Falschheit oder gar Bösartigkeit! Wessen auch immer Ihr sie verdächtigt, sie würde nie etwas Unrechtes tun!«
Kérven lachte bitter bei dieser Verteidigungsrede auf. »So hat sie Euch also auch bezaubert, de Mar? Nun, damit sind wir schon zwei, die sich Dummkopf schimpfen lassen müssen!«
»Ein Dummkopf war vielleicht Eure Graciana, weil sie sich die Finger wund geschuftet hat, um Lunaudaie bewohnbar zu machen, ohne den kleinsten Dank dafür zu erhalten«, brummte de Mar unwillig.
Er respektierte Kérven des Iles, aber er dachte nicht daran, sich von ihm einen Dummkopf nennen zu lassen. Doch, dass sein junger Herr einer war, dem stimmte er zu, denn Kérven hatte in seiner Leidenschaft für diese Frau die Tatsachen aus den Augen verloren.
»Ihr urteilt, ohne die Fakten zu kennen«, meinte Kérven seufzend. »Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede, aber ich mache Euch keinen Vorwurf. Man denkt, in ihrem Gesicht lesen zu können, aber was in ihrem ränkesüchtigen kleinen Kopf vorgeht, vermag niemand zu durchschauen! Ich habe mich am allermeisten von uns allen täuschen lassen ...«
»Vielleicht, weil Ihr nur das gesehen habt, was Ihr sehen wolltet, und alles andere missachtet habt«, entgegnete der Burgvogt.
»Und das wäre?«, knurrte Kérven gereizt.
»Sie ist euch zutiefst ergeben«, erwiderte Fiacre de Mar ruhig. »Sie würde sich eher selbst opfern, als zulassen, dass Euch Schlimmes widerfährt. Wenn sie gegangen ist, dann nur, weil sie die Demütigungen, denen Ihr sie ausgesetzt habt, nicht länger ertragen konnte. Sie ist stolz und charakterfest!«
»Aber sie ist auch unaufrichtig, tückisch, falsch und eine geschickte Diebin, also hört auf, Euch Illusionen über diese junge Frau zu machen!« Kérven schwankte zwischen Wut, Sorge und der Furcht, seine Vasallenpflicht gegenüber dem Herzog verletzt zu haben. Er vermochte sich nur noch in blanken Spott zu retten. »Ihr entschuldigt, dass ich mich im Moment nicht für derlei Märchenstunden erwärmen kann!«
Er rannte aus der großen Halle, weil er irgend etwas unternehmen musste, wenn er nicht auf der Stelle verrückt werden wollte. Wie hatte er sich auf dieses leichtsinnige, leidenschaftliche Spiel einlassen können? Es wäre seine Pflicht gewesen, Graciana ohne Zögern der Garde des Herzogs zu übergeben.
Wenn jetzt ein Unglück geschah, dann trug er die volle Verantwortung dafür. Dann hatte er die Zukunft seines Landes, der Grafschaft Lunaudaie und seine eigenen Wünsche ruiniert, um der goldenen Augen einer betrügerischen Frau willen!
»Kérven? Ihr seht mich erstaunt. Habt Ihr mich nicht förmlich angefleht, dass ich Euch nach Lunaudaie entlassen sollte, wo Ihr den Winter zu verbringen hofftet?« Jean de Montfort, dem die neue Würde des Herzogs der Bretagne eine Gelassenheit verliehen hatte, die ihm gut stand, lächelte seinem so überraschend erschienenen Freund und Kampfgefährten freundlich zu.
Der Seigneur des Iles erhob sich aus seiner respektvollen Reverenz und musterte mit einem schnellen Blick die prächtig in Purpurrot und Dunkelblau gekleidete Gestalt seines Herrschers. Die Burg von Rennes hatte sich aus einem Heerlager in einen Palast verwandelt und ihr Herr aus einem Krieger in einen wohlgelaunten Fürsten.
»Die Verwüstungen in Lunaudaie sind von der Art, dass sich die Burg als Winterquartier nicht sonderlich eignet«, behauptete er. »Ich habe die Burg den Handwerkern überlassen und denke, dass ich Euch hier besser dienen kann!«
»Das ist schön!« Der Herzog freute sich. »Meine Gemahlin und ihre Damen werden begeistert sein, wenn sich die Zahl der Herren vergrößert, die noch nicht in der Ehe gebunden sind. Die Zeiten haben sich glücklicherweise geändert. Die einzige Niederlage, die einem Ritter in diesem Hause droht, widerfährt ihm in den zärtlichen Armen der noblen Weiblichkeit! Also seht Euch vor, damit Euch die Herzogin nicht als möglichen Heiratskandidaten für ihre Freundinnen erwählt!«
Kérven stimmte ein wenig gezwungen in das Lachen des Herzogs mit ein. Er hatte auf dem Weg hierher beschlossen, nichts von Graciana zu verraten, und so gab es nur eine Möglichkeit, ihn vor einem möglichen Attentat zu schützen: Er durfte ihm nicht von der Seite weichen.
Dieser Vorsatz hatte jedoch zur Folge, dass dem Herzog binnen kürzester Zeit auffiel, dass sein Waffengefährte nach einer ganz bestimmten jungen Dame suchte, wenn er auch versuchte, dies zu
Weitere Kostenlose Bücher