Graciana - Das Rätsel der Perle
seiner muskulösen Gestalt nach, als der Fuhrmann zu seinem Wagen schlenderte, und schickte ein Stoßgebet zur heiligen Anna. Wenn der stürmische Wind anhielt, dann ging auch weiterhin kein Mensch in den Burghof, der es nicht unbedingt musste, und damit wäre ihr schon viel geholfen. Außerdem begann es jetzt auch noch zu nieseln!
Aus den Augenwinkeln entdeckte sie Kérven, der aus den Ställen trat und pfeifend hinüber zum Wohnhaus schlenderte. Er trotzte in seiner leichten Kleidung dem Wind und dem Regen und schien mit sich und der Welt zufrieden. Vermutlich, weil er ihr bewiesen hatte, dass sie Wachs in seinen Händen war.
Ihre Blicke flogen zum Herrenhaus der Burg, das sich zwischen dem Gladère-Turm und dem alten Wohnturm erstreckte. In den Eisenhaltern links und rechts der Treppe steckten bereits die Pechfackeln für den Abend, obwohl es erst »hora nona«, die Mitte des Nachmittags, sein konnte.
Die Sonnenuhr neben dem Ziehbrunnen gab bei bedecktem Himmel keine genaue Auskunft über die Zeit. Im Kloster hatte sie sich nach dem bimmelnden Schlag des kleinen Glöckchens orientiert, aber in der Kapelle von Lunaudaie gab es keine Glöcknerin, die für diesen Dienst sorgte. Die Glocken der Stadt hatten die plündernden Soldaten heruntergerissen und zum Teil zerstört.
Sie musste sich also auf ihr Gefühl verlassen, und das sagte ihr, dass bis zum Einbruch der Dämmerung dieses trüben Novembertages wenig Zeit blieb, die Bannmeile der Burg möglichst weit hinter sich zu lassen. Sie durfte nicht länger zögern, eben schleppten die Knechte die letzten Stämme davon.
Graciana raffte ihre dunkelblaue Tunika und rannte los. Sie stieß sich schmerzhaft das Schienbein, als sie sich neben dem Fuhrmann auf den Boden des Gefährts fallen ließ und hastig die schmutzigen Decken über sich zog. Sie waren feucht und stanken grauenvoll nach Pferd, Mist und anderen Dingen, die sie lieber nicht genauer benennen wollte.
»Hüh! Vorwärts!«
Der Ruf des Fuhrmanns, der seine schwerfälligen Gäule in Gang setzte, brachte den Karren rumpelnd in Bewegung. Die eisenbeschlagenen Holzräder ratterten über die Steine des Burghofes, und Graciana musste die Zähne fest aufeinander beißen, damit sie nicht klapperten. Sie wurde auf den groben Brettern durchgerüttelt, aber sie spürte es kaum. Jede Umdrehung der Räder brachte sie ein Stück weiter von Kérven des Iles fort. Es war gut so, und doch hatte sie das Gefühl, dass mit jedem neuerlichen Rütteln ein weiteres Stück von ihrem Herzen abbrach.
»Du kannst herauskommen, Kleines! Jetzt kann dich niemand mehr sehen!«
Die Aufforderung des Fuhrmannes hörend, versuchte Graciana sich aufzurichten. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie unter den erstickenden Decken gewartet hatte. Es regnete immer noch, und die Dämmerung war hereingebrochen. Sie warf einen Blick über die Schulter und erkannte eine holperige, schlammige Landstraße, die sich am Rande eines endlosen Forstes hinzog.
»Der Wald von Brocéliande«, sagte der Fuhrknecht. Und kam damit ihrer Frage zuvor. »Man sagt, früher hätten der Zauberer Merlin und die Fee Viviane in seinen Tiefen gelebt. Es ist auf jeden Fall ratsam, ihn nur mit einem Führer zu durchqueren.«
Graciana schwieg. Der Mann konnte nicht ahnen, dass seine Worte die junge Frau an eine andere Novizin des Klosters von Sainte Anne erinnert hatten: Ysobel Locronan. Während sie im Geiste das ruhige, stolze Gesicht Ysobels sah, entsann sie sich der Sagen, die ihr das junge Mädchen so gern erzählt hatte.
Ysobel glaubte fest daran, dass ihre Familie in direkter Linie von König Gradlon abstammte. Ihren Erzählungen nach war ihr Urahn dem Untergang der Stadt Ys nur durch einen Zufall entgangen. Was wohl aus Ysobel geworden war, nachdem Sainte Anne in Flammen aufgegangen war?
»Du musst keine Angst haben.« Der Fuhrmann deutete ihr Schweigen falsch. »Niemand fährt durch den Wald, aber ich muss nach Les Forges. Dort bekomme ich vermutlich eine Ladung Eisenerz für die Küste, dann kann ich dich zum kleinen Meer mitnehmen ...«
Zwar hatte Graciana vieles im Kloster gelernt, aber Wissen über das Leben der Fuhrleute hatte nicht dazugehört. Sie ahnte nicht einmal, dass ein simpler Lohnkutscher solche Strecken nicht zurücklegte.
Also schöpfte sie auch keinen Verdacht, als er die Landstraße verließ und in zunehmender Dunkelheit auf einen schmalen Karrenpfad abbog.
Erst als finstere, bewaffnete Gestalten den Karren umringten und der Fuhrmann mit
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