Graciana - Das Rätsel der Perle
Nebel wahrnahm. Nach dem unbeherrschten Wutausbruch, zu dem Kérven des Iles sie herausgefordert hatte, fühlte sie sich seltsam ausgebrannt und fremd. Sie begriff selbst nicht, was in sie gefahren war. Niemand außer ihm konnte sie dermaßen die Beherrschung verlieren lassen.
Die Dame de Tréboule mutete ihr nicht die Strapazen einer großen Toilette zu. Sie schickte auch die Bademagd wieder fort, nachdem sie der jungen Frau Gesicht und Hände gesäubert hatte. Sie hüllte Graciana lediglich in ein weiches, warmes Leinenhemd und steckte sie zwischen die Kissen des großen Alkovens, nachdem Graciana die Schale duftendes Ragout gelöffelt hatte, die man ihr gebracht hatte.
»Das Bettzeug kann man waschen«, wischte sie jeden Protest zur Seite. »Schließt die Augen und macht Euch keine Sorgen!«
Sie sah, wie ein tiefer Seufzer die Brust ihres Schützlings hob, ehe sich die Lider mit den langen Wimpern über die unglücklichen Augen senkten. Man würde morgen sehen, was man aus diesem zerzausten, mitgenommenen Vögelchen machen konnte.
Graciana ließ sich in ihre grenzenlose Erschöpfung fallen. Die Wärme dieses wundervollen Lagers, dessen Laken nach Sommer und Lavendel dufteten, legte sich wie Balsam auf ihre straff gespannten Nerven. Die weiche Matratze barg ihren geschundenen Körper auf köstlich flaumigen Federn, und die leise murmelnde Stimme von Dame Lucile begleitete sie in einen tiefen, traumlosen Schlummer. Als sie die Lider wieder hob und sich verwirrt umsah, fiel glasklarer, heller Sonnenschein in das kleine, kostbar eingerichtete Gemach. Wie kam sie hierher?
Die weißgekalkten Wände waren von Künstlerhand mit fein gearbeiteten Blütenranken bemalt worden, und zwischen den geschnitzten Deckenbalken entdeckte sie an der blauen Decke die Sterne des Himmels. Die zweigeteilten Bogenfenster links und rechts vom Kamin waren mit bunten Glasscheiben versehen, und auf den zierlichen Säulen in der Mitte wiederholten sich die Blätterranken der Maler.
Über dem breiten Eichensims des Kamines hing ein Gobelin, der eine Dame mit einem Einhorn zeigte, und in den silbernen Leuchtern darunter schimmerten dicke, gelbe Honigkerzen. Über den Steinquadraten des Bodens lagen wärmende Felle, und durch den Spalt der Bettvorhänge, die Graciana neugierig geöffnet hatte, sah sie eben noch die Kante eines Betstuhles, der vor einer kleinen, bemalten Marienstatue an der Wand stand.
Es war ein weiblich wirkendes, helles und liebevoll ausgestattetes Zimmer, das Luxus und Wärme verströmte, obwohl im Kamin nur noch ein Gluthäufchen lag. Gracianas Hände strichen behutsam über das bestickte Leinen ihrer Decken, und sie stützte sich mit einem Seufzer auf ihren rechten Unterarm, um den Kopf noch weiter aus diesem warmen Nest zu strecken.
»Ihr seid erwacht! Gott zum Gruße, einen schönen Morgen, Dame Graciana!«
Eine zierliche Zofe mit dunklen Kirschaugen und ebenso roten Wangen wie diese Frucht fuhr von einem Taburett hoch und knickste ehrerbietig. Graciana sah, dass sie am Saum eines Gewandes stichelte. Offensichtlich hatte sie geduldig darauf gewartet, dass ihre Dienste früher oder später benötigt wurden.
Graciana erwiderte den heiteren Gruß leicht verwirrt.
»Wo bin ich?«
»Im Palast des Herzogs zu Rennes«, meinte das Mädchen, das diese Frage sichtlich komisch fand, lachend. »Dame Lucile hat befohlen, dass man ihr Nachricht gibt, sobald Ihr erwacht seid. Ihr habt ewig geschlafen ... Einen halben Tag, eine ganze Nacht und noch einmal einen halben Tag. Heute ist bereits das Fest der heiligen Barbara, und der Palast rüstet zu einem prächtigen Bankett, das heute Abend in der großen Halle stattfinden soll ...«
Graciana richtete sich vollends auf und strich sich die Haare aus der Stirn. Sie sah die feinen Stickereien um den Bänderzug an den Ärmeln ihres Hemdes und die Seidenschleife, die es am Hals schloss. Aber sie bemerkte auch, dass ihre Haare vor Schmutz starrten und dass der Gestank, der ihre Nase beleidigte, von ihr selbst aufstieg.
Sainte Croix. Das heilige Kreuz besaß offensichtlich eine enorme Macht im Hause des Herzogs, wenn es ihr all diesen Luxus verschafft hatte. Sie hörte ein eigenartiges Rumpeln und begriff erst mit einiger Verzögerung, dass es ihr eigener Magen gewesen war, der da lautstark sein Recht forderte. Sie hatte Hunger! Enormen, immensen Hunger, und es war ihr nicht im Geringsten übel!
»Ist es möglich, dass ich einen Kanten Brot oder etwas anderes zu essen bekomme?«,
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