Graciana - Das Rätsel der Perle
kein Recht, mich aufzuhalten! Ich muss den Herzog sprechen!«
»Eben das werde ich zu hintertreiben wissen«, fuhr Kérven sie an und packte nur noch fester zu.
Nie hätte er gedacht, dass er ein solch wirres Durcheinander von Gefühlen empfinden könnte. Eine Hälfte von ihm wollte Graciana in die Arme schließen und nie wieder loslassen. Die andere wollte ihr den Hals umdrehen, sie für das feige Attentat, das er eben noch hatte verhindern können, auf das heftigste bestrafen. Wie konnte sie ihm das antun? Sie, als Knabe verkleidet, vor der Tür des Herzogs zu finden bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen!
»Ihr tut mir weh!«, flüsterte Graciana, und Kérvens Augen glitten über das schmale, zarte Gesicht mit den riesigen Augen.
Sie sah irgendwie anders aus, als er sie in Erinnerung hatte. Lebendiger, wirklicher und verletzlicher. Gleichzeitig aber auch beklagenswert mager, geradezu ausgezehrt. Der dünne Arm in seinem Griff fühlte sich viel zu knochig an. Violette Schatten lagen unter ihren Augen, und über ihre feinen Wangenknochen spannte sich straff die Haut.
»Ich geb’ dich nicht eher frei, bis du keine Fluchtmöglichkeit mehr hast«, entgegnete er und öffnete die Tür zu seinem Gemach.
Ludo schoss unter großem Getöse von dem Kettenhemd hoch, das er mit einem kleinen Pinsel gerade eingeölt und poliert hatte.
»Wer ....«
Er verschluckte den Rest der Frage, als auch er die goldenen Augen erkannte. Argwöhnisch fixierte er die Gestalt in den Knabenkleidern, die sein Seigneur wie eine Puppe auf das gepolsterte Taburett vor dem Kamin drückte. Sie streckte die Beine aus, und es kam ihm vor, als wollte die ganze Person in den Stiefeln ertrinken, die viel zu groß und von Schlamm bedeckt ihre Beine bis weit über das Knie hinauf bedeckten.
»Raus!«, befahl Kérven des Iles, ohne auch nur einen Blick in die Richtung seines Knappen zu werfen. »Und kein Wort zu irgend jemandem von ihrer Anwesenheit, sonst bist du die längste Zeit mein Knappe gewesen!«
Graciana lauschte ungläubig der vertrauten, melodiösen Stimme, die in solchen Momenten wie Stahl klingen konnte. Sie starrte in das kantige Antlitz mit den tiefblauen, intensiven Augen. Die scharfen Falten um Mund und Nase waren neu, und in seinem Blick lag eine so unmissverständliche Drohung, dass sie ganz von selbst in Verteidigungsstellung ging. Was wollte er von ihr? Was warf er ihr vor? Dass sie Lunaudaie verlassen hatte? Es war ihr gutes Recht gewesen!
Das Türschloss klickte, und sie blieben allein. Keiner wollte den Anfang machen. Sie starrten einander schweigend und vorwurfsvoll an, gebannt von diesem Wiedersehen, das sie beide überrascht hatte. Wie üblich war es dann Kérven des Iles, der sich als erster fasste und ohne Schonung zum Angriff vorpreschte.
»Womit hat er dich in der Hand, dass du dein Leben, deine Sicherheit und deine ewige Seligkeit für ein solches Verbrechen aufs Spiel setzt!«, rief er voller Zorn.
»Wer?«, wisperte Graciana verwirrt. »Von wem oder was sprecht Ihr?«
»Ich weiß, was du tun wolltest! Weil du nicht ahnst, dass ich deine Worte gehört habe, wenn du im Traum sprachst!«, schrie Kérven unbeherrscht. »Was wäre geschehen, wenn mich der Himmel nicht ausgerechnet in diesem Moment über deinen Weg geschickt hätte?«
Unsinnige Andeutungen waren nicht das, was Graciana von ihm erwartet hatte. Sie wollte weder über ihre Albträume noch über seine sinnlosen Anschuldigungen diskutieren.
»Was wäre geschehen?«, machte sie ihn gereizt nach. »Ich würde jetzt mit dem Herzog sprechen und müsste mich nicht mit einem Ritter herumstreiten, der unweigerlich das Schlechteste von mir annimmt, sobald ich auch nur den Mund aufmache. Eines könnt Ihr mir glauben, Messire des Iles! Sogar die Männer Paskal Cocherels haben mehr Menschenkenntnis als Ihr!«
Die Erwähnung des Söldnerführers bestätigte Kérven in seinen schlimmsten Vermutungen. So kam sie also von ihm? Sie hatte nichts Besseres zu tun gewusst, als Lunaudaie zu verlassen, um sich erneut in die Fänge dieses Mordbrenners zu begeben?
»Ich werde nicht zulassen, dass du jemals vor den Herzog trittst!«, verkündete Kérven und verschränkte die Arme über seinem dunkelblauen, goldbestickten Wams.
»Wie wollt Ihr das verhindern?«
Graciana ballte die Fäuste. Die stürmische Freude, die wie berauschender Wein durch ihre Adern geströmt war, als sie ihm so unverhofft gegenüber stand, wich mehr und mehr der blanken Wut. Sie wusste nicht, ob
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