Graciana - Das Rätsel der Perle
erkundigte sie sich vorsichtig.
Man würde sich doch sicher nicht all diese Mühe mit ihrer Unterbringung machen, wenn man sie am Ende verhungern lassen wollte? Das hoffte sie zumindest inständig.
»Aber natürlich«, versicherte die Zofe eifrig. »Ich sage sofort Dame Lucile Bescheid, und dann komme ich mit einem Imbiss für Euch zurück ...«
Das flinke Mädchen huschte hinaus, und Graciana setzte vorsichtig die bloßen Füße auf das weiche, weiße Fell vor dem Alkoven. Was für ein herrliches Gefühl! Nicht einmal in Lunaudaie hatte es einen solchen Luxus in der Kammer des Seigneurs gegeben.
Lunaudaie war das Wort, das ihre gute Laune empfindlich dämpfte. Kérven war hier! Im Palast des Herzogs! Er hatte sie daran hindern wollen, dem hohen Herrn ihr Anliegen vorzutragen. Wie weit reichte seine Macht in dieser Festung? Konnte er verhindern, dass sie mit Jean de Montfort sprach, oder war das rätselhafte »Heilige Kreuz« stärker als der Graf von Lunaudaie?
Graciana hob den ein wenig zu langen Saum des Hemdes und lief hinüber zum Betstuhl. Vorsichtig kniete sie auf das rote Samtpolster und faltete die Hände. Die Marienstatue mit dem lachenden Kind auf den Armen verbreitete dieselbe Fröhlichkeit wie die übrige Kemenate. Graciana betrachtete die Mutter Gottes plötzlich mit völlig anderen Augen. Sie versuchte, sich das zappelnde, pummelige Jesuskind in ihren Armen als ihr eigenes Kind vorzustellen. War es ein Sohn oder eine Tochter, die da in ihr wuchs?
»So ist es recht, dankt nur dem Herrgott dafür, dass er Euch sicher in das Haus des Herzogs geführt hat«, lobte in diesem Moment die Dame Tréboule Gracianas vermeintliche Frömmigkeit.
Sie rauschte in die entzückende Kemenate, beugte sich zu Graciana hinab und küsste sie mütterlich auf die Stirn. Danach blickte sie prüfend in das feine Gesicht, aus dem die violetten Schatten der Erschöpfung endlich geschwunden waren, wenngleich die Zeichen von Vernachlässigung und Entbehrung noch zu sehen waren.
»Steht auf, meine Kleine. Wir müssen uns sputen, damit wir Euch präsentabel haben, wenn der Herzog Euch empfängt. Arlette wird gleich mit Eurer Mahlzeit kommen, und danach bringe ich Euch am besten in die Badestuben. Mit einem Zuber allein ist es in Eurem Fall nicht getan!«
»Ich soll zum Herzog?«, fragte Graciana. »Wann?«
»Ich nehme an, er wird Euch vor dem Bankett eine Audienz gewähren. Die Gerüchte um Eure Person überschlagen sich bereits. Alle sind entsetzlich neugierig, die Frau kennen zu lernen, die Kérven des Iles so nachhaltig in ihren Bann geschlagen hat!«
»Ihr täuscht Euch, ich ...«
»Ihr müsst mir nichts erklären, Kind!«, erwiderte die Dame de Tréboule herzlich. »Ihr sollt lediglich zulassen, dass ich ein wenig für Euch und Eure Schönheit tue. Ich könnte mir vorstellen, dass es Euer Anliegen fördert, wenn Ihr nicht länger ausseht wie etwas ganz besonders Armseliges, das eben aus der Bettelschale des nächstbesten Buckligen gefallen ist.«
Der drastische Vergleich entlockte Graciana ein Lachen. Sie hielt sich nicht für schön, aber Sauberkeit und Ordnung waren in Sainte Anne für jede der frommen Frauen eine Selbstverständlichkeit gewesen. Wenn Dame Ludile ihr dazu verhelfen konnte, würde sie ihr dankbar sein. Es gefiel ihr nicht, übel zu riechen und kratzige Lumpen zu tragen – ob das Eitelkeit war, die Mutter Elissa bestraft hätte? Sie zwang ihre wandernden Gedanken in die Wirklichkeit zurück und lächelte ihrer Wohltäterin dankbar zu.
»Es wäre wunderbar, wenn ich mich waschen könnte!«
»Daran soll es nicht liegen.« Die Oberhofmeisterin nickte. »Aber erst müsst Ihr etwas essen ...«
Das Kammermädchen mit den roten Wangen erschien wie aufs Stichwort. Sie schleppte ein gewaltiges Tablett herbei, auf dem zugedeckte Schüsseln, geflochtene Körbchen voller Kuchen, weiße Brote, Früchte und Pasteten zu erkennen waren, und alles duftete unglaublich köstlich.
»Das hast du gut gemacht, Arlette«, lobte Dame Lucile und rückte Graciana einen Stuhl an einem kleinen, eingelegten Tisch vor dem Kamin zurecht. »Greift zu, meine Kleine. Ihr seht aus, als hättet Ihr einen Happen nötig ...«
Graciana zierte sich nicht, sondern griff herzhaft zu. Dass sie während ihrer Mahlzeit von der Älteren beobachtet wurde, fiel ihr nicht weiter auf. Die Dame de Tréboule fragte sich in höchst undamenhafter Neugier, welche Pläne der Herzog mit diesem Mädchen hatte. Jean de Montfort gehörte nicht zu den
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