Graciana - Das Rätsel der Perle
zu zeigen. Unter dem Busen wurde das Gewand von einer kreisförmigen Goldbrosche gerafft, und die elegante, pelzgesäumte Schleppe ließ Graciana noch größer und schlanker wirken, als sie ohnedies schon war.
Zufrieden trat die Oberhofmeisterin zurück und suchte Arlettes Blick.
»Ich denke, keine Haube!«, verkündete sie. »Die Haare offen, nur ein Stirnband und einen Schleier! Mit einer Haube wäre sie größer als der Herzog, und das gehört sich nicht ...«
Graciana strich staunend über Samt und Atlas, über Pelz und Goldstickerei. Sie betrachtete die Spitzen der grünen Schuhe, die unter dem Rocksaum hervorlugten, und atmete ganz vorsichtig, damit sie keine Falte durcheinander brachte. Sie wagte sich nicht zu bewegen, und Arlette musste sich auf die Zehenspitzen hochrecken, um die Nadeln aus den hochgesteckten Haaren zu ziehen. Wie eine goldene Wolke sprangen sie auseinander und legten sich in glänzenden Wellen über Schultern und Rücken bis fast auf die Taille hinab. Ein paar letzte Striche mit dem Elfenbeinkamm bändigten die knisternde Pracht.
»Setzt Euch«, kommandierte die Oberhofmeisterin, als Arlette vergeblich versuchte, den Schleier zu befestigen. »Ihr dürft Euch sehr wohl in diesem Gewand bewegen, oder hat Arlette es zu eng geschnürt?«
Graciana schüttelte stumm den Kopf und lauschte dem seidigen Rascheln der Röcke, die sich um das Taburett bauschten. Mit Hilfe der Oberhofmeisterin befestigte Arlette den hauchdünnen, duftigen Schleier mit einem schmalen, goldenen Stirnreif, der in knapper Fingerbreite Gracianas Stirn in der Mitte umspannte.
Danach traten beide Frauen schweigend einen Schritt zurück. Obwohl sich neben Graciana und der Oberhofmeisterin noch drei weitere Mägde im Raum befanden, war es mit einem Male so still, dass man das Fallen einer Nadel hätte hören können.
Irgendwo schlug eine Glocke, und Graciana bekreuzigte sich aus jahrelanger Gewohnheit heraus. Das brach den Bann, und Dame Lucile wandte sich noch einmal der Truhe zu. Sie entnahm ihr einen großen, eckigen Gegenstand, der gut zwei Ellen lang und eine Elle breit war. Er war in dunkle Samttücher gehüllt, die sie sorgsam zur Seite schlug, ehe sie etwas heraushob, das Graciana wie ein Bild vorkam. Es wirkte schwer, und die Dame schnaufte ein wenig, bis sie es gegen die Mittelsäule eines Fensters gelehnt hatte und Graciana zu sich winkte.
»Wollt Ihr Euch nicht betrachten?«
»Ein Spiegel«, wisperte Graciana beeindruckt. »Wie riesig er ist. Ich habe noch nie einen so großen Spiegel gesehen ...«
»Schaut hinein«, unterbrach sie die Oberhofmeisterin. »Dann erblickt Ihr etwas, was ich noch nie gesehen habe: die vollkommene Verkörperung von jugendlicher Schönheit und elegantem Liebreiz!«
Sie schob Graciana vor die reflektierende Silberfläche, auf der sich das Bild einer Edeldame spiegelte, die Graciana nicht im Geringsten mit sich selbst in Verbindung brachte. Unwillkürlich berührte sie das fremde Gesicht auf der glatten Platte, das mit seinen großen, goldenen Augen so geheimnisvoll wirkte.
Ein Stirnreif betonte die stolze Form der Brauen, und ein zarter Schleier lag wie duftiger Nebel über den sanft gewellten, goldenen Locken. Duftige Spitze umspielte den züchtigen Ausschnitt, und die Goldbänder hoben den verführerischen Schwung des vollen Busens und der Hüften hervor.
»Unmöglich, das kann ich nicht sein ...«, flüsterte sie beeindruckt.
»Doch, das seid Ihr!«, erklärte die Oberhofmeisterin mit hörbarem Stolz auf das meisterliche Werk, das sie vollbracht hatte. »Fasst Euch, Kind, ich bringe Euch jetzt zum Herzog!«
»Ich kann nicht!«
Mit einem Schlag verließ Graciana der Mut, der sie bisher so tapfer aufrechtgehalten hatte. In all dieser geborgten Pracht fühlte sie sich jäh der eigenen Persönlichkeit beraubt. Der Herzog musste sie für eine Hochstaplerin halten, wenn sie so vor ihn trat!
»Potzblitz, Mädchen«, brauste die Oberhofmeisterin auf. »Ein wenig mehr Format, wenn ich bitten darf! Es wird doch wohl einen Grund dafür geben, dass Ihr dieses Gezeter mit dem Seigneur des Iles abgehalten habt, um den Herzog zu sehen. Nun wird Euer Wunsch erfüllt, und jetzt seid Ihr zu feige? Wen wollt Ihr mit diesem zimperlichen Gehabe täuschen? Ihr seid keine dumme Gans, Ihr habt den Mut eines Kriegers! Also schlagt gefälligst die Schlacht, die Ihr Euch eingebrockt habt!«
Ein zitterndes Lächeln flog um Gracianas Mundwinkel. Der barsche Ton der hohen Dame erinnerte sie fatal an
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