Grafeneck
Fremder?«
»Er kann von überall her sein. Und solange wir nicht wissen, wer er war, wird es schwierig herauszufinden, wer sein Mörder war. Einen Anhaltspunkt, Herr Mauser. Das ist es, was wir brauchen.«
»Mir ist immer noch ein Rätsel, wie die Leich in die Höhle gekommen ist«, sagt Mauser und beißt von seinem Brot ab.
»Wir haben keinen zweiten Zugang gefunden. Jedenfalls nicht mit dem Sonar. Man müßte eine eingehende geologische Untersuchung anstellen, um den Aufbau der Höhle herauszuarbeiten. Aber das hilft uns nicht unbedingt weiter.«
Einen Anhaltspunkt, denkt Mauser. Sieh an, da bin ich schon schlauer als die Polizei erlaubt.
»Wir haben auch keine Kugel gefunden. Sie hatten recht. Er ist nicht in der Höhle erschossen worden. Und der Anzug weist keinerlei Schleifspuren auf. Merkwürdig.«
»Haben Sie denn Blut auf dem Anzug gefunden?« fragt Mauser.
»Kann ich noch Kaffee haben?«
»Sicher.«
Greving hält den Becher mit beiden Händen. Lehmverschmierten Händen. Mauser schaut sie sich zum ersten Mal an. Auch sie sind gestaltende Hände, Hände, die im Dunkeln graben und Formen hervorbringen. Greving ist auch so ein Töpfer, so ein Macher. Macht er, was ihm in den Kopf kommt? Er muß sich an Fakten halten. Er kann daraus nicht machen, was er will. Es sind schlanke Hände mit langen Fingern. Hände, die zeigen, daß ihr Besitzer zuerst mit dem Kopf arbeitet, bevor er die Hände benutzt. Es sind Kopfhände.
»Das Blut auf dem Anzug ist natürlich eingetrocknet. Aber wir haben viel davon gefunden. Wir haben auch eine Bodenprobe genommen. Dann wissen wir, ob er an der Fundstelle noch geblutet hat. Vielleicht finden wir auch Schmauchspuren am Kragen, schließlich war es ein aufgesetzter Schuß. Dann hätte er den Anzug getragen, als er erschossen wurde. Wir lassen das Gelände oberhalb der Höhle noch abgesperrt.«
»Wieso das?«
»Ich habe das Gefühl, daß es noch einen zweiten Zugang gibt. Ich glaube nicht, daß die Leiche weit transportiert wurde. Und vielleicht hat man ihn ja da oben erschossen. Dann müßten wir zumindest die Kugel finden.«
»Nach fünfzig Jahren?«
»Wieso fünfzig Jahre?«
»Das haben Sie doch gesagt.«
»Ich sagte: fünfzig oder mehr Jahre.«
Mauser merkt, daß er sich verraten hat. Gminder KG, Reutlingen. Vor Kriegsende. Aber das werden die bald herausfinden. Also macht es nichts.
»Die Gminder KG, Sie wissen doch. Die haben, soviel ich weiß, vor Kriegsende zugemacht …«
Greving schüttelt lächelnd den Kopf. »Wir können nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß der Anzug so alt ist wie die Leiche. Egal. Die Obduktion wird uns weiterhelfen.«
»Haben Sie sonst noch was gefunden?«
»Auf dem Rücken. Wir wissen noch nicht, was es bedeutet …«
»Was denn?«
Greving schlürft seinen Kaffee und schaut Mauser nicht an. »Jetzt interessieren Sie sich doch für den Toten«, sagt er.
»Recht und Unrecht«, sagt Mauser. »Ist das nicht Grund genug, sich zu interessieren?«
Greving zuckt die Schultern. »Um Recht oder Unrecht mache ich mir keine Gedanken. Wer kann das schon sagen? Im nachhinein weiß man es immer besser. Aber wenn man in der Situation drinsteckt, wer sagt einem da, was Recht und was Unrecht ist?«
»Die Wahrheit«, sagt Mauser. Er schenkt sich auch Kaffee ein. Der Dampf ringelt ins Sonnenlicht und schwindet. »Die Wahrheit muß man herausfinden.«
»Was ist Wahrheit? Das hat schon Pilatus gefragt. Weiß man nach zweitausend Jahren denn mehr darüber, was Wahrheit ist?«
»Sind Sie ein Frommer?«
Greving lacht. »Wenn Sie so wollen, ja.«
Mauser lacht auch. »Irgendwie glaubt ja jeder an Gott.«
»Ich glaube an das Erbarmen«, sagt Greving und fährt mit der Hand über ein Kissen Buschwindröschen, das unter einem Baum blüht. Er spürt die feinen rotweißen Blütenkelche an der Innenfläche. Kleine, zarte Blumen. Richten sich nach der Sonne. Schließen sich, wenn es Abend wird. Öffnen sich dem Licht. So sollten wir auch sein, denkt Greving.
»Die Welt ist ein Ort voller Dunkelheit. Da finden wir uns allein nicht zurecht. Was wir brauchen, ist Erbarmen. Einen, der uns vergibt. Wir können das nicht allein.«
»Glauben Sie als Kriminaler an das Gute im Menschen?«
»Was heißt als Kriminaler? Ich glaube, daß das Böse eine Macht ist, mit der sich der Mensch fälschlich eingelassen hat. Er wird nicht damit fertig. Sie reißt Abgründe in ihm auf, für die er nicht geschaffen ist.«
»Ich weiß nicht«, sagt Mauser nachdenklich.
Weitere Kostenlose Bücher