Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Grafeneck

Titel: Grafeneck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Gross
Vom Netzwerk:
versucht, jeden kleinsten Schatten zu protokollieren. Das Starren durchs Okular.
    Ich kann nicht mehr, denkt er. Alles hängt von mir ab. Ich kann das nicht. Ob sich die Profile ähnlich sehen oder nicht – ich werde nie wissen, zweifelsfrei wissen, ob sie identisch sind oder nicht.
    Aus seiner Jackentasche kramt er sein Notizbuch und den Bleistift hervor. Rillenprofil hat er hineingeschrieben und einen Doppelpfeil dahinter gemacht. Tatwaffe, mit Ausrufungszeichen. Aber viel gibt es nicht zu notieren. Alles ist an der Täterfrage hängen geblieben. Anfangs war es vielleicht ein Spiel, ein wichtiges, lebensnotwendiges, aber ein Spiel. Herausfinden, was die Zeit verschlüsselt hinterlegt hat. Die Zeit selbst entschlüsseln, ihr langsames Vergehen, ihr Verharren in der Dunkelheit unter der Erde. Die Wahrheit ans Licht bringen und dererlei Phrasen, aber in Wirklichkeit geht es um etwas anderes. Plötzlich erschreckt ihn, welche Gestalt das annimmt, plötzlich hat es mit ihm zu tun, plötzlich steckt er mitten darin in den Geheimnissen und dem Dunkel der Zeit. Wir haben alle ein Höhlenauge, denkt Mauser. Ein Auge voll Dunkelheit, das in der Sonne blind ist. Wir können die Wahrheit nie sehen.
    Wir sind nie Beobachter.
    Wir sind immer Täter.
    Hilflos hält er seine Notizen in Händen. Hilflos notiert er das Kreidekreuz, das Greving gefunden hat. Ein Fragezeichen? Nein, der Name Heinrich Waltz.
    Vielleicht geht es Waltz ähnlich. Vielleicht hat er auch etwas entdeckt, das ihn erschreckt. Er kennt alle Geschichten seiner Juden, alle Legenden, die sich um den Friedhof ranken, aber auf einmal begegnet er einer Figur, deren Geschichten er nicht kennt. Oder die ihm bekannt vorkommt, weil er selber damit zu tun hat. Auf einmal könnte man an Heinrich Waltz unangenehme Fragen richten, so ein Kommissar aus dem Unterland, dem es egal ist, wie unsereiner mit den entdeckten Geschichten lebt.
    Er steckt das Buch weg.
     
    »Frau Baader?«
    »Herr Kommissar?«
    »Ich hätte Ihnen gern ein paar Fragen gestellt. Kann ich hereinkommen?«
    Veronika ist mit ihrer Arbeit für heute fertig. Sie wäscht sich die Hände und bittet den Kommissar hinauf in die Wohnung. Greving schaut sich in den Regalen um, die voller Töpferware stehen, und nickt anerkennend. Ob das Geschäft gut laufe? Woher ihre Kunden kämen? Veronika öffnet die Tür zur Stube und bittet den Kommissar, Platz zu nehmen. Tee oder Kaffee? Greving nimmt Tee, Schwarztee, mit Zucker und ohne Milch. Greving lehnt sich in dem Sofa zurück und beobachtet durch die Tür, wie Veronika in der Küche Wasser aufsetzt. Aus einem Hängeschrank nimmt sie eine Blechdose. Mit dem Löffel mißt sie ab und gibt den Tee in einen Papierfilter. Mit einer Klammer verschließt sie den Filter und hängt ihn in die Kanne.
    »Sie sind mit Herrn Mauser befreundet?« fragt Greving, als sie den Tee hereinbringt.
    Veronika setzt sich ihm gegenüber in einen Sessel und hält die Tasse in der Hand. Es dampft daraus. Greving ist gespannt, ob sie auf die Frage antworten wird. Er hält sie für einen offenen Menschen, jemanden, mit dem man leicht ins Gespräch kommt. Deshalb ist er heute hier. Er will mehr über Mauser erfahren.
    »Ja, wir sind befreundet, so kann man sagen.« Veronika nimmt einen Schluck und verzieht das Gesicht. Sie hat sich die Lippe verbrannt.
    »Schon lange?«
    »Seit fünf Jahren. Vor sieben Jahren bin ich hierher nach Buttenhausen gekommen. Vorher habe ich in Reutlingen gewohnt und dort ein Atelier gehabt. Aber ich wollte raus aus der Stadt, hinauf auf die Alb, auch wenn mir das keiner geglaubt hat.«
    »Weshalb?« meint Greving lachend und schlürft vom Tassenrand. Der Tee ist wirklich heiß. Auch wenn es so aussieht, als blickte er auf seinen Tee, läßt er Veronika nicht aus den Augen. »Ich kann mir gut vorstellen, daß Sie sich hier wohler fühlen. Die Inspiration der Natur und so.«
    »Mit Inspiration hat das an sich wenig zu tun«, meint Veronika. »Das war damals so eine Art neues Marketing-Konzept. Wir haben uns in einer Verkaufsgemeinschaft organisiert und wollten gemeinsam einheimische Produkte von der Alb vertreiben, verstehen Sie? Schafwollprodukte, Fleisch, Käse, Früchte, Seife, alles, was die Gegend so hergibt. Wir haben auf die Touristen spekuliert: Je mehr die Alb als Ferienlandschaft erschlossen wird, desto größer ist unser Klientel.«
    »Und? Ist das Konzept aufgegangen?«
    »Für mich auf jeden Fall. Meine Kunden kommen von weither. Selbst aus Reutlingen, zum

Weitere Kostenlose Bücher