Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Grafeneck

Titel: Grafeneck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Gross
Vom Netzwerk:
Schicksale klären können. Ein paar Opfer, die gelten als verschollen, auf dem Weg in den Osten oder in den KZs.«
    Greving nickt. »Was fühlen Sie eigentlich dabei? Wenn Sie den Verbrechen der damaligen Zeit nachgehen? Ich meine –«
    »Das hätten Sie mich damals fragen sollen. Als es passiert ist. Da habe ich was gefühlt, das kann man sagen. Aber die Arbeit am Friedhof, als ich die angefangen habe, habe ich bloß Ordnung hineinbringen wollen, in die Vergangenheit, meine ich. Viele von den Deportierten, die habe ich ja gekannt. Ich habe wissen wollen, wo sie geblieben sind. Den Friedhof habe ich bewahrt, wie er war. Er gehört zum Dorf. Jetzt, wo die Namen vollzählig sind, da haben Sie vielleicht recht, jetzt tut es gut. Die Verschleppungen damals: Nacht-und-Nebel-Aktionen waren das. Das hat sich alles im Geheimen abgespielt. Und das muß man ans Licht holen. Das find ich.«
    Greving nickt. »Das kann ich gut verstehen. Bei meiner Arbeit ist es ähnlich.«
    »Fünfzig Jahre sind eine lange Zeit«, sagt Waltz. »Da geht viel verloren.«
    »Sie wissen, warum ich hier bin?«
    »Wegen dem Kreidekreuz.«
    »Ich hatte den Eindruck, daß Sie etwas wissen, was Sie vor den anderen nicht sagen wollten.«
    Waltz zuckt mit den Schultern. »Ich kann Ihnen nur sagen, so ein Kreidekreuz, das taucht bei den Deportierten nirgends auf. Sonst weiß ich nix.«
    »Aber vielleicht haben Sie eine Idee, oder eine Vermutung?«
    Die habe ich wohl, denkt Waltz. Aber dir werde ich das nicht auf die Nase binden.
    Waltz zuckt wieder die Schultern. »Vielleicht erfahren Sie über jüdische Organisationen was. Die haben in ganz Deutschland ihre Quellen. Ich habe nur archiviert, was in unserem Dorf passiert ist.«
    Greving mustert den alten Mann. Wieder ist da die Verschlossenheit in seinem Gesicht, die verächtliche Gelassenheit eines Menschen, der ein Geheimnis hütet und einen spüren läßt, das man kein Recht hat, es zu lüften. In hundert Jahren kriege ich den nicht dazu, denkt Greving.
    »Schade«, sagt Greving. »Aber Sie haben sicherlich recht. Jüdische Organisationen könnten mehr wissen.«
    »Viel Glück wünsch ich Ihnen.«
    Schon stehen sie wieder und schütteln einander die Hände. Greving schaut Waltz in die Augen. Er lächelt. Wissend. Will ihm sagen: Ich weiß Bescheid, daß du Bescheid weißt. Wir brauchen einander nichts vorzumachen. Fast herzlich lacht er und steigt die Treppe hinab, tritt aus der Haustür ins Freie.
    »Was lachen Sie?« fragt Waltz verwundert.
    »Sie würden mir nichts sagen, wenn Sie etwas wüßten, stimmt’s?«
    Waltz nickt ernst. »Ja, das würde ich.«
    »Und warum?«
    »Haben Sie das immer noch nicht verstanden? Hier in Buttenhausen, da geht’s darum, ob jemand was weiß und gewußt hat oder nicht. Die Vergangenheit, wir leben mit der. Wenn ich’s Ihnen sagen würde, dann müßte ich sagen: Ja, ich hab was gewußt. So aber kann ich sagen, ich weiß von nix.«
    »Schwierig zu verstehen.«
    »Nein. Ganz einfach. Ade, Herr Kommissar.«
    Waltz schaut ihm nach, wie er in seinen Wagen steigt und wegfährt. Nein, der wird nichts erfahren. Sollen sie’s selber rausfinden. Es gibt nur einen, dem ich was sagen würde. Einer, der auch damit zu tun hat.
     
    Wenig später klingelt es wieder an der Tür. Waltz arbeitet im Archiv und braucht eine Weile, bis er an der Tür ist. Draußen steht Mauser. Den hat er so früh nicht erwartet.
    »So ein Zufall«, sagt Waltz und begrüßt ihn freundlich. »Vorhin habe ich noch an dich gedacht.«
    »War der Kommissar bei dir?« fragt Mauser ohne Umschweife.
    »Ja. Der ist jetzt in die Kreisstadt gefahren, will dort die Untersuchungsergebnisse abwarten.«
    »Früher oder später finden sie heraus, was das mit dem Kreidekreuz ist. Oder nicht?«
    Waltz nickt. Er führt Mauser ins Archiv im Keller. Auf dem Tisch liegen ein paar Zeitungsnotizen und lose Blätter. Ein Kellerregal mit Ordnern nimmt die eine Wand ein. Durchs Fenster fällt weißes Licht, ein fast grelles, flutendes Frühlingslicht, als wäre das eine Wächterstube hoch auf einer Zinne. Man blickt übers Land und wartet auf den Moment, wenn das Zeichen ergeht, das Zeichen für das Alarmfeuer. Über hohe Berge kommt es aus der Ferne und kündet von Krieg und Schrecken, von der Erfüllung der Zeiten.
    »Ich muß es aber jetzt wissen«, sagt Mauser.
    »Ich weiß. Daß du irgendwann kommst, das habe ich mir schon gedacht. Aber noch nicht heute.«
    »Du weißt, was das Kreidekreuz bedeutet.« Das ist keine Frage.

Weitere Kostenlose Bücher