Gran Reserva
war das freie, in dem kurzzeitig Escovedo gelagert hatte, nun für den Kronprinzen eingerichtet worden. Jetzt war es endlich mit dem gefüllt, was hineingehörte: Gran Reserva, bis obenhin.
Alle verhielten sich in diesem besonderen Raum still wie in einer Kirche, deswegen hallte ein Geräusch aus dem Nebenraum nun auch wie Donnerhall. Es klang wie eine umfallende Flasche. Zwei Sicherheitsbeamte zogen sofort ihre Waffen und rannten in die entsprechende Richtung.
Normalerweise hätte Max das für übermäßig dramatisch gehalten, jetzt waren ihm zwei zu wenig.
Aber schon nach wenigen Augenblicken kamen sie wieder zurück.
Max meinte, ein leises, hungriges Maunzen zu hören.
Schließlich betraten sie den neu errichteten, riesigen Fasskeller, den der König nun zum 50-jährigen Jubiläum der Bodegas Faustino feierlich eröffnen sollte. Stühle waren für die Gäste aufgestellt, ein breites rotes Band zwischen zwei metallische Ständer gespannt. Eine übergroße Schere lag daneben auf einem mit einer Samttischdecke überzogenen Stehtisch. Mit dem ersten Schritt des Monarchen in den Keller begann ein Streichquartett Vivaldis »Herbst« – die wichtigste Jahreszeit für Winzer. Alle setzten sich und lauschten gebannt. Die Stühle schienen exakt für die Anzahl der angekündigten Gäste abgezählt. Nur einer blieb leer. Wer fehlte? Max ging die Reihen durch. Doch kaum hatte er damit begonnen, waren die Streicher am Ende angelangt, und der König stand auf – sofort erhoben sich alle anderen ebenfalls. Mist! Hier bot sich für den Attentäter eine herausragende Möglichkeit. Das riesige Fasslager, welches einer Flugzeug-Konstruktionshalle glich, besaß Dutzende Ausgänge. Und wenn der Attentäter die Fässer dann noch ins Rollen brachte, würde ihn niemand verfolgen können.
Der Monarch schritt zu dem Band, das er feierlich durchschneiden sollte. Das Streichquartett spielte ein dramatisches Crescendo. Und…
…der König schaffte es tatsächlich, das dünne Band zu durchschneiden.
Applaus.
Wie gut, dass man einen König hatte.
Max atmete durch.
Zig Fotos wurden geschossen, dann ging es in Richtung des großen Saals, wo die Gäste das Gala-Menü erwartete. Die Gänge in der Bodega wurden enger, die Stimmung war gelöst, es wurde geredet, gescherzt, gelacht, eine ausgelassene Vorfreude auf Essen und Wein lag in der Luft.
Dann passierte es, gerade als Max nicht damit rechnete.
Tumult brach aus.
Die Panik war spürbar. Blanke Panik.
Alle wollten weg, doch niemand wusste, wohin.
Max konnte nicht erkennen, was die Ursache war, doch er spürte die Angst tief in seinen Knochen, er spürte das Tier in sich, das fliehen wollte, ins Dickicht, in die Sicherheit. Schwarz gekleidete Sicherheitskräfte stießen wie ein Rammbock durch den Pulk, alle drängten durcheinander, manche duckten sich an die Wand, als versuchten sie, in den Fugen zwischen den Mauersteinen Schutz zu finden.
Max spürte seine Schläfen pochen. Nichts konnte er ausmachen in diesem Chaos.
Dann setzte er den Sucher seiner Kamera ans Auge.
Und die Welt wurde klar, sein Atem ruhiger, sein professioneller Blick sezierte die Motive vor seiner Linse.
Die Unruhe war von rechts hereingebrochen. Die Sicherheitsleute hatten den König auf den Boden geworfen und sich darüber. Doch sie machten ihren Job schlecht, denn der Kopf des Monarchen war ungeschützt.
Freie Schussbahn.
Der Regen schlug dumpf auf das Dach der Bodega. Berstend laut. Darüber war das Brodeln der Gewitterwolken zu hören. La Rioja wurde durchtränkt wie ein trockener Schwamm.
In Maxʼ Sucher erschienen Cristinas Augen, sie blickten ihn an. Traurigkeit sah Max in ihnen, Schmerz, Hilflosigkeit, und Liebe – und wegen dieser Liebe wurde ihm mit einem Mal alles klar. Liebe war es, die im Zentrum des Mordes an Alejandro Escovedo stand. Liebe der Schlüssel zur Auflösung. Er wusste nun, wer den alten Basken getötet hatte und aus welchem Grund. Er wusste, warum Cristina sich so merkwürdig verhalten hatte, und er vergab ihr. In diesem Augenblick schloss er sie sogar noch mehr in sein Herz, um sie dort vor all dem bewahren zu können.
Sie warf ihm einen Kuss zu, mit Tränen in den Augen.
Er dachte an die Sekundenmeditation. Heute nehme ich wahr, was vor mir liegt.
Er senkte die Spiegelreflexkamera.
Im selben Moment sah er, wie sich der Lauf einer Pistole hob. Die Hand, die sie hielt, zitterte, doch sie war entschlossen.
Max hatte damit gerechnet, dass dies geschehen würde, und doch
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