Gran Reserva
war er nicht vorbereitet.
Er sah, wie der Lauf auf sein Ziel ausgerichtet wurde und der Finger sich um den Abzug krümmte.
Er hörte den Knall, als die Kugel aus dem Rohr schoss.
Das Geräusch, als sie sich ins Fleisch bohrte und auf der anderen Seite des Körpers wieder austrat.
Max meinte sogar, das Blut auf den Boden spritzen zu hören, auch wenn das inmitten all der Menschen unmöglich war.
Den Schrei hörte jeder.
Markerschütternd.
Der alte Iker ließ die Waffe fallen.
»Warum?«, schrie Ines Sastre. »Warum haben Sie das getan?«
Iker ging völlig ruhig und langsamen Schrittes zu seinem blutenden Opfer und hob bedächtig die hölzerne Flaschenkiste auf, die zu Boden gefallen war.
Heulend versuchte Timothy Pickering die Blutung an seinem rechten Oberschenkel zu stoppen.
Iker öffnete die Holzkiste und streichelte zärtlich über den 1964er Faustino I Gran Reserva. »Es gibt nur noch zwei Flaschen davon. Dieser Mann wollte eine davon stehlen. Das konnte ich nicht zulassen.« Die Tränen in seinen Augen verrieten Max, dass dies nicht die ganze Wahrheit war. Julio Faustino Martinez trat zu dem alten Mann, der seit dem Ende seiner Zirkuszeit bei der Grupo Faustino arbeitete, und umarmte ihn.
»Diese Flasche sollte der König bekommen«, verkündete der Patriarch selbst und schüttelte Iker dankbar die Hand. Das Kinn des Greises verhärtete sich.
Dann wurden die Gäste von Mitarbeitern der Bodega wie eine Schafherde von ihren Hütehunden in den großen Saal getrieben – allerdings mit höflichem Lächeln statt Gebell.
Zwei Polizisten halfen Timothy Pickering auf die Beine, ein Notarzt stand auf dem Parkplatz bereit, falls der König plötzlich hustete oder ein frisches Taschentuch benötigte. Die anderen Polizisten hoben die Waffe auf, sicherten sie und folgten dem König hastig. Iker schienen sie in all der Aufregung völlig zu vergessen.
Mit Cristina und Max blieb er allein im Raum zurück.
»Warum hast du ihn nicht erschossen?«, fragte Max.
»Ich habe auf sein Herz gezielt, aber ich bin ein schlechter Schütze«, antwortete Iker. Seine Enkelin schmiegte sich an seine Brust.
»Nicht Timothy. Den König, warum hast du nicht auf ihn geschossen, obwohl du es geplant hattest? Obwohl Alejandro Escovedo deswegen sterben musste. Er wollte dich davon abhalten, nicht wahr? Das meinte er, als er im Kloster Yuso sagte, er wolle ein großes Unglück verhindern. Eines, das aus einer großen Ungerechtigkeit entstehen würde. Er wusste von diesem Attentat und wollte nicht, dass es durchgeführt wird. Wie sollte ein Greis aus einem winzigen Dorf im Baskenland, der nicht gerne redete, der immer mehr mit Tieren als mit Menschen zu tun hatte, davon wissen? Doch nur, wenn ein alter Freund, der sich ihm anvertraut hatte, es plante.«
Iker sah ihn ernst an, Cristina begann zu weinen. »Du weißt es also.«
»Ich weiß auch, dass es nur eines gibt, was dich und Alejandro verbindet. Nämlich die Liebe zu Tieren. Er seine Ziegen, du deine Bären. Ist es wegen ihm, wegen deinem Bären? Er war Pepe, oder? Den der König in Russland erschossen hat. Ich habe davon im Flugzeug gelesen. Natürlich wusste ich da nicht, dass der Bär einen Namen hatte, und erst recht nicht, dass es deiner war.«
»Ja«, Iker nickte entschieden. »Alejandro hat Pepe auch geliebt. Wir waren wie eine Bande. Wie Brüder. Der König hat ihn einfach abgeknallt.« Das Wort »König« spuckte er aus wie bittere Galle. »Er war ein zahmer Bär, vor die Flinte haben sie ihm Pepe geführt. Er war zutraulich, freundlich gegenüber allen Menschen. Sie haben ihn mit einem Gemisch aus Wodka und Honig träge und langsam gemacht, damit er leichter abzuknallen war. Es war nicht fair, es war ein Abschlachten, ein kaltblütiges Ermorden. Schämen sollte sich der König dafür, und in der Hölle schmoren.« Das Gesicht des alten Mannes war von Wut verzerrt.
»Alejandro Escovedo war mit dir beim Zirkus?«, fragte Max.
»Er war die Ziegennummer. Eine gute Ziegennummer. Die Beste.«
»Du musst ihm nichts sagen, Yayo.« Zärtlich sprach Cristina das spanische Wort für Großvater aus, als wäre es Heilsalbe für seinen großen Schmerz.
»Doch, ich muss es sagen, ich will es sagen, es lastet auf mir. Woher wusstest du es, Max?«
»Es gibt zwei Möglichkeiten, ein Attentat absolut sicher zu verhindern. Man muss die Veranstaltung entweder absagen, auf der es geschehen soll, oder den Attentäter schon vorher dingfest machen. Vor seinem Tod hatte Alejandro einen
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