Grand Cru
Tagen ließ Isabelle nichts von sich hören. Er hatte mehrere sms und zwei E-Mails geschickt, aber keine einzige Antwort erhalten. Funkstille wie damals, als sie nach Paris gegangen war und den Kontakt einfach hatte abreißen lassen. Er fand ihr Verhalten weniger irritierend als rätselhaft. Wollte sie ihm mit ihrem Schweigen zu verstehen geben, dass es zwischen ihnen nun endgültig aus war? Einer anderen Frau hätte er vielleicht unterstellt, dass sie ihn zu provozieren versuchte, doch Isabelle waren solche Tricks nicht zuzutrauen. Sie war offen und direkt, sagte er sich. Doch als das Handy läutete und er in der Tasche danach kramte, war er so erregt, dass er sich darüber wunderte.
»Ich bin's, Pamela«, meldete sich die Engländerin in einer seltsam verhaltenen Tonlage, die ihn seine Enttäuschung sofort vergessen ließ. »Ich habe eine traurige Nachricht. Cresseil ist gestorben. Ich bin auf seinem Hof, und es scheint, dass er schon eine Weile tot ist. Könnten Sie bitte trotzdem den Arzt rufen? Mein Akku ist gleich leer. Ich warte, bis Sie da sind. Mit mir ist alles in Ordnung, ich bin mit meinem Pferd hier.«
Sie legte auf. Bruno wollte eigentlich sofort losfahren, um sie nicht lange am Bett des Toten warten zu lassen. Aber sie schien durchaus gefasst zu sein, und er hatte noch ein paar Dinge zu erledigen. Als Erstes rief er die
pompiers
an, die Feuerwehr, die in solchen Fällen zu verständigen war, und gleich darauf in der Klinik mit der Bitte, einen Arzt zu schicken, der den Totenschein ausstellen sollte. Dann eilte er ins Büro des Bürgermeisters, um ihn über Cresseils Ableben zu informieren. Schließlich sprang er in seinen Transporter, fuhr los und versuchte, Max, den nunmehr nächsten Angehörigen Cresseils, über Handy zu verständigen. Doch der antwortete nicht.
Pamela trug wie immer, wenn sie morgens ausritt, blitzblank polierte Stiefel, ihre beige Reithose und ein schwarzes Jackett. Das kupferfarbene Haar steckte unter ihrem mit schwarzem Samt bezogenen Helm. Im Sattel sah sie großartig aus. Nun aber wirkte sie klein und äußerst zierlich, wie sie da mit dem Zügel in der Hand vor ihrem Pferd im Hof stand. Als Bruno seinen Transporter vor dem kleinen Wohnhaus abstellte, fiel ihm auf, dass der Weingarten abgeerntet war.
» Bonjour,
Pamela.« Er küsste sie auf beide Wangen und nahm sie in den Arm. »Tut mir leid, dass Sie ihn rinden mussten. Es wird ein ziemlicher Schock gewesen sein. Alles in Ordnung?«
Sie nickte und drückte ihn kurz an sich.
»Ich nehme an, er ist im Haus, oder?«
»Nein«, antwortete sie mit dünner Stimme. »In der Scheune, da, wo ich ihn gefunden habe. Ich habe nichts angerührt und Sie sofort angerufen, als mir klar war, dass er tot ist.«
»Sind Sie zufällig vorbeigekommen?«
»Ich wollte eigentlich zu Max. Er hat mich eingeladen, seinen Wein zu verkosten. Sein Vorschlag, Gästehäuser zu beliefern und eigens für sie Flaschenetiketten zu entwerfen, hat mir gefallen. Aber er war nirgends zu finden, auch der alte Cresseil nicht, also habe ich nach ihnen gesucht.«
Sie band ihr Pferd an einen Zaunpfosten und führte Bruno über den Hof und an der großen gemauerten Scheune vorbei zu einem kleineren Gebäude, dessen Tor halb offen stand. Der Alte lag vor den Stufen einer Trittleiter, die vor einem der großen alten Weinfässer stand.
»Ich habe nur seinen Puls gefühlt und sonst nichts angefasst«, sagte sie.
Bruno nickte. Er ging vor dem Toten in die Hocke und berührte dessen Wange mit dem Handrücken. Sie war kalt. Die Leichenstarre schien zwar noch nicht eingesetzt zu haben, doch der Alte musste schon mehrere Stunden tot sein. Der Hals sah seltsam verrenkt aus. Bruno warf einen Blick auf die wacklige Trittleiter. War der Alte da hinaufgestiegen und auf den feuchten, glitschigen Stufen ausgerutscht? Oder hatte er einen Schlaganfall erlitten und jenes schnelle Ende gefunden, das sich viele alte Menschen so erhoffen? Darauf würde der Arzt antworten müssen.
»Wir können nichts mehr für ihn tun«, sagte er. »Warten wir, bis die
pompiers
und der Arzt hier sind. Ich will nur schnell ins Haus gehen und sehen, was in seinen Unterlagen zu finden ist.«
Pamela nickte und ging mit Bruno in den Hof zurück. »Wo Max bloß bleibt? Er muss aufgehalten worden sein. Als wir gestern miteinander telefoniert haben, sagte er, dass er am Abend seinen Wein lesen wolle, aber den Vormittag für mich freihalten werde. Er wird erschüttert sein. Gerade erst adoptiert, und nun
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