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Grandios gescheitert

Grandios gescheitert

Titel: Grandios gescheitert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
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Nunmehr aber wurde es für die »bürgerlichen Wissenschaftler« eng, wenn nicht lebensgefährlich. Rücksichtslos sollten nach Stalins Wunsch die nachrückenden Wissenschaftler die ältere Forschergeneration aus Labors und von Kathedern vertreiben.
    Stalin veränderte die Sowjetunion, seitdem er nach Lenins Tod die Kämpfe um die Nachfolge für sich entschieden hatte. Am bekanntesten sind die Terrorjahre 1936 bis 1938, denen rund eine Million Menschen zum Opfer fielen, aber Stalin schuf sich auf allen Ebenen den Staat, der auf ihn allein zugeschnitten war, und verfolgte mit Brachialgewalt eine Politik der Industrialisierung. Die Wissenschaft blieb davon nicht verschont, auch sie musste sich fortan uneingeschränkt den Vorgaben des Staates stellen: Wissenschaft im Dienst des Aufbaus des Sozialismus, hieß das Motto. Ein zentralistisches, gut überwachtes Wissenschaftssystem ersetzte die weitgehende Autonomie, von der so viele Forscher enorm profitiert hatten. Strenge Hierarchien und straffe Planung, dazu eine rigide Personalpolitik im Sinne der Partei und Überwachung der Forschungsarbeit, außerdem Repression – nunmehr gab es sogar Arbeitslager für Wissenschaftler zur Forschung im Dienste von Industrie oder Militär.
    In dieser Atmosphäre nahm sich die 1918 gegründete Kommunistische Akademie des Anliegens Iwanows an, und eine Kommission namhafter Biologen und anderer Wissenschaftler untersuchte den Fall. Wegen der möglichen Erkenntnisse für die Vererbungslehre, möglicher Belege für Darwins Evolutionstheorie sowie möglicher Perspektiven für die genetische Forschung sprach sie im Frühjahr 1929 die Empfehlung aus, die angestrebten Versuche in Sochumi so bald wie möglich durchzuführen. Man beschloss, das Ganze aber einstweilen geheim zu halten. Vertreter von Eugenik und Genetik als Wunderwissenschaften für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft stellten damals Unglaubliches in Aussicht: Alexander Serebrowski, einer der führenden Genetiker der Sowjetunion, hielt es für denkbar, Sowjetmenschen zu züchten, deren Physis Außergewöhnliches ermöglichen sollte: »Zählt man zusammen, welche Kraft, Zeit und Mittel freigesetzt würden, wenn es uns gelänge, die Bevölkerung unserer Sowjetunion von jeglichen Erbleiden zu reinigen, so könnte man wahrscheinlich ein Fünfjahressoll in zweieinhalb Jahren erfüllen.« Um sich abzusichern, verankerte Serebrowski seine Überlegungen tief im Fundament der marxistischen Lehre: »Die Lösung des Problems, wie die Auslese in der menschlichen Gesellschaft zu organisieren sei, wird zweifellos nur im Sozialismus möglich – nach der endgültigen Zerstörung der Familie, dem Übergang zur sozialistischen Erziehung und der Trennung von Liebe und Zeugung.« Dann könnten die enormen Potenziale der Eugenik ausgeschöpft werden, denn sie sei überaus vielversprechend für die »Verbesserung des Menschen selbst, den man in vielerlei Hinsicht tatsächlich verbessern kann und muss«. Serebrowski forderte dafür die Entkoppelung der Fortpflanzung von Familie und Sexualität – statt mit dem eigenen Partner Kinder zu zeugen, sollten Frauen sich mit dem Sperma ausgesuchter Spender künstlich befruchten lassen.
    Wer auf Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus mit umfassender Planung einen neuen Staat und eine neue Gesellschaft aufbauen wollte, dem konnte die planmäßige Beeinflussung der Bevölkerungsentwicklung mittels solch drastischer Eingriffe in den Genpool der Menschen als durchaus folgerichtig erscheinen. Das Ziel, auch auf diesem Weg den Staat nach vorn zu katapultieren, hätte dabei einen nicht unerwünschten Nebeneffekt: Die Familie als Keimzelle der Gesellschaft sollte ausgedient haben, um dem Staat mehr Einflussmöglichkeit zu geben und mit als reaktionär verstandenen Werten gründlich aufzuräumen.

Die Suche nach Freiwilligen
    Für Iwanows Kreuzungsvorhaben sollten nunmehr Freiwillige gesucht werden, also Frauen, die sich dem Experiment, mit Affensperma befruchtet zu werden, aus freien Stücken unterzogen. Man sprach von »ideellem Interesse«, finanzielle Vorteile sollten damit also nicht verbunden, wohl aber ein klarer Klassenstandpunkt vorhanden sein. Mindestens fünf Frauen sollten sich dafür zu einem Jahr strenge Isolation in der Zuchtstation Sochumi bereiterklären. Zumindest eine Freiwillige wurde auch tatsächlich gefunden: Eine Frau aus Leningrad (Sankt Petersburg) schrieb an Iwanow: »Da mein Leben in Trümmern liegt, sehe ich keinen Sinn mehr

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