Grandios gescheitert
Vorhaben«. Jetzt nutzte er die erstbeste Gelegenheit, seinen Arbeitsmittelpunkt in die Türkei zu verlegen, und resümierte nach dem Krieg in seinen Erinnerungen: »Wenn ich einen Einzelgrund für mein Auswandern in die Fremde angeben sollte, dann wäre es wohl die Flucht vor diesem Wahnsinn.«
Günther Wiens übertrug noch 1944 die Hitler’sche Sucht nach Größe in einer Denkschrift über die Breitspurbahn in kühle Argumente: Man müsse einfach in größeren Maßstäben denken, um voranzukommen. Im klaren Bewusstsein, dass eine Breitspurbahn alles andere als notwendig war, argumentierte Wiens, die Erörterung einer Breitspurbahn sei analog zu den Reichsautobahnen vor allem mit dem Argument einer Wohlstandssteigerung vertretbar, dank der sich immer mehr Menschen ein Auto und eine Bahnreise würden leisten können. Steigender Wohlstand führe auch zu mehr Güterverkehr, der die enormen Transportkapazitäten einer Breitspurbahn durchaus auslasten könnte. »Weshalb soll sich also die Eisenbahn immer bescheiden und in den Fesseln ihrer Spur, in denen sie seit 100 Jahren verharrt, auch weiter verbleiben, während andere Verkehrsmittel, die nicht die Fessel einer Spurweite mit sich herumschleppen, sich ständig weiterentwickeln?« Und ganz im Tenor der Europa-Propaganda des Signal schrieb er weiter:
»Ein ›neues Europa‹ unter ›Führung eines starken Großdeutschen Reiches‹ gibt mit seinen weiten Entfernungen, seinen großen Gütermengen sowie den Zukunftsaussichten des Schnellverkehrs der Eisenbahn überhaupt erst die Möglichkeit, ihre Leistungsfähigkeit voll zu entfalten und eine neue Epoche im Eisenbahnwesen einzuleiten, die die Erstarrung des Schienennetzes aus seinem gegenwärtigen Rahmen mit den Bindungen an Spurweite und Profil sprengt. Die Größe der Aufgabe erhebt aber einen Totalitätsanspruch: ›Ganz oder gar nicht!‹ Die Beurteilung der Frage nach dem Bau von Breitspur-Fernbahnen kann daher nur einer weit vorausschauenden politischen und wirtschaftlichen Entscheidung unterliegen.«
Wiens war aber sehr bewusst, dass der Aufwand enorm sein würde. Eine veränderte Spurweite welcher Größe auch immer bedeutete nicht nur den Bau größerer Waggons und Lokomotiven sowie die Verlegung neuer Gleise. Auch neue Bahnhofs- und Rangieranlagen mussten gebaut werden, eine ganz neue Fahrzeugindustrie mit Fabriken, Betriebs- und Ausbesserungswerken und neuem Maschinenpark musste her, deren Anlagen dem vergrößerten Maßstab entsprechend rund doppelt so groß ausfallen mussten. Gleichzeitig durften die beiden Systeme Normal- und Breitspur nicht komplett getrennt sein. Sollte die Breitspurbahn durch große Distanzen und kurze Transportzeiten punkten, waren weniger Bahnhöfe sinnvoll. Dann aber mussten für Passagiere Umsteigemöglichkeiten zwischen Breitspur und Normalspur geschaffen werden, und auch Güter mussten umgeladen werden können.
Zweistöckige Hotelzüge quer durch Europa
Die Vorplanungen lagen inzwischen in einer umfangreichen Unterlagensammlung vor: Fünf Textbände mit je einem Anlagenband fassten die Entwürfe zu Lokomotiven verschiedener Antriebsarten sowie für Personen- und Güterwagen zusammen. Mehrere Firmen waren unter der Auflage strengster Geheimhaltung mit den Entwürfen beauftragt worden: die deutschen Konzerne Henschel, Schwartzkopff, Krupp, Siemens, die Wiener Lokomotivfabrik Floridsdorf und die Schweizer BBC, Vorläufer des Konzerns ABB. Allein für Lokomotiven im Eigenantrieb wurden 33 Entwürfe erstellt, die für Geschwindigkeiten zwischen 100 Stundenkilometer für Güterloks und 250 Stundenkilometer für Schnellzugloks im Passagierverkehr ausgelegt waren. Als Zuggewicht waren 1.000 Tonnen einkalkuliert, was die Zahl der Wagen auf sieben beschränkte. Je nach Art der Züge konnten 576 Reisende (Luxus-Tagezug), 738 bzw. 946 Reisende (Schlafwagenzug mit oder ohne Badewagen) oder 1.484 Reisende (Normal-Tageszug) aufgenommen werden. Bei einem vom Gewicht her vierfachen Fassungsvermögen der Züge gegenüber der Normalspur stieg die Zahl der Reisenden im Normal-Tageszug auf das Doppelte – in größeren Abteilen und mehr Nebenräumen, also insgesamt mit erheblich gesteigertem Reisekomfort.
Denn nicht nur Lokomotiven wurden an den Reißbrettern der Entwickler entworfen, vor dem geistigen Auge der Planer erstanden auch ganze Züge mitsamt Innenausstattung. Anhand dieser Planungen lässt sich gut nachvollziehen, wie anders das Reisen mit solchen Zügen hätte werden sollen – und
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