Granger Ann - Varady - 01
wenigstens nachholte, was ich an
Bildung versäumt hatte. Denn Nevs Bücher waren schwer
verdauliche Lektüre.
Eines Nachmittags tauchte Inspector Janice vor meiner Wohnungstür auf. Mit ein wenig Glück hatte ich zumindest Sergeant Parry zum letzten Mal gesehen. Doch es war das erste Mal,
dass Janice mich in meiner eigenen Wohnung nervte.
Ich machte Kaffee für sie und bot ihr einen Platz in dem
Lehnsessel an, den Euan bei der Heilsarmee für mich organisiert hatte. Als sie sich setzte, brachen die Federn unter ihr
ein. Ihre Knie schossen hoch bis unters Kinn, und sie packte
Halt suchend die abgescheuerten Armstützen aus Plüsch,
während sie mich wütend anfunkelte.
»Ich wollte nur höflich sein!«, verteidigte ich mich. »Das
war kein böser Scherz. Wenn Sie mögen, können Sie sich
auf diesen hier setzen.« Ich deutete auf das Möbel aus Aluminiumrohr und Plastik, auf dem ich selbst Platz genommen hatte.
Sie rutschte auf die vorderste Kante des Lehnsessels vor
und blieb dort hocken. Ihr Kaffeebecher stand zu ihren Füßen am Boden. »Das ist wirklich eine furchtbare Wohnung,
in der Sie leben«, sprudelte sie unvermittelt hervor. »Wie
sind Sie in solche Schwierigkeiten geraten, Fran? Sie sind
jung, gesund und haben Ihre sieben Sinne beisammen.«
Zum ersten Mal stellte sie keine Polizeifrage. Sie wollte es
wirklich wissen, für sich selbst, ganz privat. Vielleicht wies
ich ihre Frage deshalb nicht entrüstet zurück.
»Es ist eine Bleibe«, sagte ich. »Aber Sie wollen bestimmt
nicht meine ganze Lebensgeschichte hören. Ich wurde obdachlos. Das geht schneller, als Sie glauben.«
»Erzählen Sie mir davon«, beharrte sie.
»Die Person, mit der ich zusammenlebte, wurde krank.
Sie musste in ein Pflegeheim eingewiesen werden. Sie war
die Mieterin, nicht ich, und der Vermieter wollte mich raus
haben, so einfach ist das.«
Ich sagte zwar die Wahrheit, doch ich verschwieg, wie es
wirklich gekommen war. Nach Vaters Tod waren Großmutter Varady und ich in der Wohnung geblieben. Nach einer
Weile wurde sie verwirrt. Ich glaube, es war Vaters Tod, mit
dem sie nicht fertig geworden ist. Sie begann zu reden, als
wäre er noch am Leben, und schlimmer noch, sie begann
mich Eva zu rufen. Eva war der Name meiner Mutter. Als
hätte sie vergessen, dass meine Mutter uns im Stich gelassen
hatte.
»Bondi kommt heute Abend wieder später«, sagte sie
immer. Bondi war der Spitzname, mit dem sie meinen Vater
rief. Sein richtiger Name war Stephen.
Sie fing an, mitten in der Nacht aufzustehen im Glauben,
dass schon Morgen sei, und im Nachthemd aus dem Haus
und die Straße hinunter zu wandern. Unser Hausarzt besorgte ihr schließlich einen Platz in einem Heim. Ich hatte
immer geschworen, dass ich niemals zulassen würde, dass
Großmutter Varady in ein solches Heim kommt, aber meistens entwickeln sich die Dinge nicht so, wie man es erwartet.
Ich konnte mich nicht um sie kümmern. Sie erkannte mich
nicht mehr. Sie lebte noch ungefähr sechs Monate in diesem
Heim und starb dort, während sie schlief. Zu diesem Zeitpunkt wohnte ich bereits unter der ersten der noch zahlreich folgenden »rechtswidrigen« Adressen.
»Hören Sie«, sagte ich zu Janice, »ich hatte Jobs, Dutzende von Jobs. Sobald die Arbeitgeber herausfinden, dass man
keine anständige Adresse vorzuweisen hat, können sie einen
nicht schnell genug loswerden. Oder sie nutzen die Notlage,
in der man sich befindet, schamlos aus und bieten einem
Hungerlöhne an. Man fällt durch das soziale Netz unseres
Systems. Und man muss höllisch kämpfen, um auch nur einen Fuß wieder in die Tür zu kriegen.«
»Erzählen Sie mir nichts vom System!«, sagte sie. »Jedes
System gibt Ihnen einen Tritt, wenn man sich mit Ellbogen
hineinboxt. Versuchen Sie mal, als Frau beim CID Karriere
zu machen.«
Sie hatte wahrscheinlich nicht Unrecht, doch ich wollte
nicht, dass sie mich für einen Jammerlappen hielt, und das
sagte ich dann auch. »Eines Tages komme ich wieder raus
aus diesem Loch, auf die eine oder andere Weise und vor
allen Dingen ganz allein! Es wäre kein schlechter Anfang,
diese Mordgeschichte endlich hinter mich zu bringen.«
Janice nickte. Sie bückte sich, nahm ihren Becher vom
Boden auf und trank einen Schluck. »Ich mache gerade eine
Scheidung durch«, sagte sie plötzlich. »Also weiß ich genau,
wie Sie sich fühlen, glauben Sie mir. Wenn ich die Scheidung erst hinter mir habe, geht es mir wieder besser. Aber
im Augenblick …« Sie beugte den
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