Granger Ann - Varady - 01
erhoben.«
Ein grauenvoller Gedanke stieg in mir auf. »Kelly, das Stallmädchen – sie ist nicht etwa die Tochter der beiden, oder?«
»Du meine Güte, nein!« Ruby kicherte. »Sie wohnt nur
bei ihnen.«
Bei den Lundys zu wohnen musste ungefähr so gemütlich
sein wie ein Quartier im Tower von London.
Ruby klopfte den Rührlöffel am Rand der Teigschüssel ab.
»So, fertig.« Sie begann den Teig in eine feuerfeste Pyrexschüssel zu heben, die zur Hälfte mit gedünsteten Früchten
gefüllt war. Dann hielt sie mir den Löffel mit den Teigresten
hin. »Möchten Sie ihn ablecken, oder sind Sie zu alt für so
etwas? Als Theresa klein war, hat sie immer neben mir gewartet, bis ich ihr den Löffel gegeben habe. Auch als sie älter
war, hat sie es noch getan.«
»Ich jedenfalls bin auch nicht zu alt!«, sagte ich und
nahm den Löffel entgegen. »Ich habe immer den Löffel abgeleckt, wenn meine Oma Kuchen gebacken hat. Ihr Schokoladenkuchen war wundervoll.«
Ruby schob die Schüssel in den Backofen und machte
sich anschließend daran, die Küche wieder aufzuräumen.
Mrs. Lundy faltete einen Kopfkissenbezug, legte ihn auf einen Stapel fertig gebügelter Wäsche und nahm ein weiteres
Stück von einem erschreckenden Berg ungebügelter Sachen.
Sie mochte das Bügeln zu einer Kunstform erhoben haben,
doch es hatte sie anscheinend in einen Zombie verwandelt.
Vielleicht war es auch das Leben mit Mr. Lundy. Doch sie
war nicht taub, und trotz allem, was Ruby gesagt hatte,
verstand sie vielleicht mehr als erwartet. Genug, um jedes
Wort, das ich sagte, zu ihrem Ehemann zu tragen. Auf der
anderen Seite war die Gelegenheit zu einem Gespräch mit
Ruby einfach zu gut. Ich musste es riskieren.
»Ruby«, begann ich vorsichtig. »Sie … Sie wissen, dass
ich mit Theresa in einem Haus gewohnt habe, oder?«
»Man hat es mir gesagt, ja.« Ruby richtete sich auf und
stieß laut die Luft aus. »Uff!« Ihr Gesicht wirkte freundlich,
doch ihre Augen blickten wachsam. »Hat sie in Schwierigkeiten gesteckt, die Ärmste? Wenn Sie mich fragen, es muss
so gewesen sein!«
»Ich weiß es nicht, Ruby. Wenn Sie in Schwierigkeiten
war, dann hat sie mir nichts davon erzählt. Ehrlich nicht.
Ich hätte es Alastair bestimmt gesagt, wenn ich es gewusst
hätte.«
»Theresa war ein halsstarriges Kind.« Ruby schüttelte den
Kopf. »Mr. Alastair und Mrs. Cameron haben sie abgöttisch
geliebt, doch sie hat ihnen das Leben sehr schwer gemacht.
Die beiden wurden alt, verstehen Sie? Sie kamen nicht zurecht mit den Problemen, die junge Menschen haben. Ganz
besonders nicht die heutigen jungen Menschen. Sie wollten
ihr helfen, aber sie konnten nicht. Sie wussten nicht wie.«
»Was für Probleme?«, fragte ich treuherzig. Mrs. Lundy
verspritzte Wasser und bügelte weiter. Es zischte leise unter
der Hitze des Bügeleisens. Zu dumm, dass sie das Gespräch
mit anhörte, doch ich konnte es nicht ändern.
Entweder war Ruby in diesem Augenblick eingefallen,
dass Mrs. Lundy zugegen war, oder sie war nicht bereit, mit
einer Fremden zu klatschen, und eine Fremde war ich. »Fragen Sie mich nicht, Verehrteste!«, sagte sie und schwieg.
Sie würde nichts mehr sagen. Ich dankte ihr dafür, dass ich
den Löffel hatte ablecken dürfen, und ging an Mrs. Lundy
vorbei aus der Küche. Als ich auf ihrer Höhe war, sah sie auf.
Ich gewann den flüchtigen Eindruck eines flachen, ausdruckslosen Gesichts, das dick mit Puder bedeckt war. Kein
Lippenstift, kein Augenmake-up, keine Anstrengung, sich
sonst irgendwie herzurichten. Es erschien mir eigenartig. Ich
lächelte ihr zu, und sie senkte auf der Stelle den Blick – doch
nicht, bevor ich nicht ein Aufblitzen in ihren Augen bemerkt
hatte. Keine Erwiderung meines Grußes, sondern Angst.
Es gab mir auf dem Weg nach oben in mein Zimmer
reichlich zu denken. Als ich angekommen war, vervollständigte ich meine Bilddokumentation. Ich fertigte eine Fotografie von Terrys Zimmer an. mit den Stofftieren auf der
Schubladenkommode. Dann fotografierte ich das Kaninchen. Als Nächstes kam der Schlitz im Bauch an die Reihe,
aus dem ich den Brief gezogen hatte. Dann nahm ich den
Brief aus seinem Versteck zwischen Bucheinband und Umschlag, knipste beide Seiten, obwohl die Schrift wahrscheinlich nicht besonders gut zu lesen sein würde, und legte ihn
wieder zurück.
Als ich mit alledem fertig war, spulte ich den Film zurück,
obwohl er längst nicht voll war, und wickelte ihn in ein wenig Watte aus der Frisierkommode. Ich schrieb
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