Granger Ann - Varady - 02
schon
zu sein.
»Was machst du hier?«, fragte sie klug. Ich war nicht
schlimm genug zugerichtet, um einen Zufluchtsort zu suchen. Es musste also irgendeinen anderen Grund geben.
Ich blickte zur Tür. Die gute Frau brauchte verdammt
lange, um das Tischlerproblem zu regeln, doch vielleicht
konnte ich dies zu meinem Vorteil ausnutzen.
»Ich suche nach einer Freundin«, vertraute ich Samantha
an. »Wohnst du schon lange hier?«
»Eine Weile.« Sie sah mich unbestimmt an. »Wir waren
früher auch schon hier, ziemlich oft sogar. Ich weiß nicht,
wie lange wir diesmal bleiben.«
»Der Name meiner Freundin ist Lauren«, sagte ich.
»O, Lauren is nich mehr hier«, sagte Samantha ohne Zögern.
Fast wäre ich triumphierend vom Stuhl aufgesprungen.
Also war Lauren hier gewesen! Andererseits gab es vielleicht
mehr als eine Lauren.
Versuchsweise fuhr ich fort: »Meine Freundin Lauren
hatte lange Haare und ein Aliceband – ein Haarband – wie
das von der Frau im Büro.«
»Das is Miriam. Die Frau im Büro«, stellte meine Informantin richtig. »Lauren hatte auch so ein Band im Haar. Ich
hätte auch gerne eins«, fügte sie hinzu, und ihr Blick wurde
nachdenklich. »Meinst du, meine Haare sind schon lang genug?«
»Das würde ich meinen, ja«, versicherte ich ihr. »Wann
ist Lauren weggegangen?«
»Keine Ahnung.«
»War sie lange hier?«
Samantha runzelte die Stirn. »Sie hat nicht hier gewohnt. Sie
ist nur immer wieder vorbeigekommen und hat geholfen …«
Die Tür ging auf, und Miriam kam zurück. Als sie Samantha erblickte, hielt sie inne und rief: »O!« Dann polterte
sie los: »Was machst du denn hier drin, Samantha? Deine
Mutter sucht nach dir! Los, lauf zur ihr, Liebes!«
Samantha glitt von ihrem Stuhl. »Auf Wiedersehen«, sagte sie höflich zu mir. Sie trottete an Miriam vorbei in den
Flur, und ich hörte, wie sie draußen jemand anderen auf die
gleiche freundliche Weise begrüßte. »Hallo. Was machen Sie
hier? Männer dürfen hier nich rein! Sind Sie ’n Freund von
einer Frau?«
»Nein«, erwiderte eine vertraute Stimme. »Ich bin ein Polizist.«
»O, einer von denen «, zwitscherte meine kleine Freundin
abfällig.
Ich hätte es selbst nicht besser ausdrücken können. KAPITEL 10 Als ich noch an der Schauspielschule war, lehrten sie uns alles über Auftritte und Abgänge.
Ein guter Auftritt ist wichtig, aber ein guter Abgang ist noch
viel wichtiger. Shakespeares »Er entflieht, von einem Bären
verfolgt« ist ein gutes Beispiel. Ganz objektiv betrachtet und
ohne zu prahlen: der Abgang, den Sergeant Parry und ich
aus dem Frauenhaus hinlegten, schlug Shakespeares Wintermärchen um Längen. Es war nämlich ein außerordentlich
dramatischer Abgang. Er hätte die Zuschauer von den Sitzen gerissen, und das ohne jemanden im Bärenkostüm im
Hintergrund.
Nachdem er mich munter mit meiner kleinen Freundin
Samantha hatte plaudern sehen, war Sergeant Parry in noch
schlechterer Stimmung als gewöhnlich in den Speisesaal gestürmt.
»Schaffen Sie das Kind hier raus!«, fauchte er – unnötigerweise. Denn die arme kleine Samantha hatte längst gelernt, wann es an der Zeit war zu verschwinden, und war
den Flur hinunter und die Treppe hinauf in den ersten
Stock gerannt, außer Reichweite seiner Wut.
»Also schön, Fran!«, schäumte er weiter. »Ich hätte mir
denken können, dass Sie es sind! Sie verschwinden auf der
Stelle, ist das klar?!«
»Ich bin noch nicht fertig hier«, erwiderte ich würdevoll,
weil man sich nicht auf die gleiche Stufe wie diese Kerle
herablassen sollte. Das haben sie uns in der Schule beigebracht. Eine Dame handelt ruhig und besonnen, ganz gleich,
wie die Umstände aussehen mögen. Sie lässt sich nicht dazu
herab, vulgär zu werden, nicht einmal gegenüber der Polizei.
Die Frau mit dem weiten Rock, die die gleiche Schule,
wenn auch mit größerem Erfolg, durchlaufen hatte, zeigte
sich gleichermaßen bestürzt angesichts von Parrys schlechten Manieren. Sie stand stocksteif an der Tür, und ihr Busen
bebte, während sie ein leises, missbilligendes Glucksen ausstieß, als hätte sie ihn nicht angerufen und hergebeten, was
sie ohne Zweifel getan hatte.
»O doch, das sind Sie!«, schnauzte mich Parry an.
»Nein, bin ich nicht.« Ich konnte nicht widerstehen.
Parry allerdings hatte keinen Sinn für Humor. Er packte
mich auf die Weise am Ellbogen, in der Beamte Missetäter
abzuführen pflegen, und schob mich im Gänsemarsch an
der Denunziantin im Eingang vorbei, durch den Flur
Weitere Kostenlose Bücher