Granger Ann - Varady - 02
zu springen, den Vorhang zurückzureißen und ihn wütend anzufunkeln, Auge in Auge. Zehn zu
eins, dass ich ihm einen Schreck eingejagt hätte und er geflüchtet wäre. Er war ein Herumtreiber, einer von der Sorte,
die sich im Schatten hielt. Er lebte seine Fantasien heimlich
aus. Er mochte es nicht, wenn seine Opfer ihn sahen.
Opfer? Ich hob die Flasche, doch sie war leer. War ich tatsächlich ein Opfer? Wenn ja, in welcher Hinsicht? Vielleicht
war er nur ein Irrer. Es gab Leute, die nachts unterwegs waren und umherstreiften. Sie waren verantwortlich für die alten Geschichten von Werwölfen und Vampiren. Heute
nennen wir sie Psychos. Was konnte er nur von mir wollen?
Ich ging die möglichen Varianten des Themas durch.
Vielleicht war er ein Vergewaltiger. Kellerwohnungen waren
bekannt dafür, dass man leicht in sie einbrechen konnte.
Doch ich hatte eine Kette an der Tür und Riegel an den
Fenstern.
Oder er war ein Einbrecher? Wie kam er auf die Idee, dass
es in meiner Wohnung etwas Wertvolles gab, das sich zu
stehlen lohnte? Ich musste auf jeden Fall Daphne informieren. Vielleicht dachte er, dass sie wertvolle Dinge im Haus
aufbewahrte oder Geld. Andererseits wollte ich Daphne
nicht unnötig erschrecken. Falls er sich für das Haus interessierte, warum hing er vor dem Kellereingang herum? Und
falls ich das Objekt seiner Aufmerksamkeit war, warum die
arme alte Daphne erschrecken?
Wusste er, so fragte ich mich, dass ich ihn bereits entdeckt hatte? Hatte er gewusst, dass ich wach geworden war
und seinen Schatten durch den Vorhang gesehen hatte? Er
hatte nicht am Fenster gerüttelt, um herauszufinden, ob es
verriegelt war. Was zur Hölle spielte er für ein Spiel? Wollte
er mir Angst machen? War es das, was er wollte?
Ich hob die leere Flasche zum schweigenden Gruß.
»Wenn es das ist, mein Freund«, sagte ich, »dann leistest du
ganze Arbeit. Ich habe Angst.«
Ich konnte Ganesh davon erzählen. Doch Ganesh würde
ausflippen. Ich konnte Parry informieren. Nein, so schlimm
war es noch nicht.
Ich kroch unter meine Bettdecke zurück, aber ich schlief
nicht besonders gut.
Endlich dämmerte es, und ich schlief noch einmal unruhig
ein. Gegen halb sieben erwachte ich endgültig und sprang
vom Sofa. Ich konnte mir nicht leisten, das Tageslicht zu
verschlafen. Nicht jetzt. Die Zeit war gegen mich. Von allen
Dingen, die gegen mich standen, war Zeit der kritischste
Faktor. Und wenn ich es genau bedachte, gab es eigentlich
nichts, das auf meiner Seite war.
Wenn man dazu noch den Schatten nahm, der des Nachts
vor meiner Wohnung herumschlich, fehlte es mir nicht an
guten Gründen, aktiv zu werden. Wenigstens wusste ich
nun, wo ich anfangen musste zu suchen. Ich duschte,
schlüpfte in Jeans und Pullover und machte mich auf den
Weg zum Frauenhaus von St. Agatha.
Ich kann nicht sagen, dass ich mich fröhlich pfeifend
dorthin auf den Weg gemacht hätte. Nachdem ich jedoch
die Wohnung einmal hinter mir gelassen hatte, flößte mir
all die Normalität des Alltagslebens ringsum genug Mut ein,
um zu glauben, dass ich schon alles irgendwie wieder auf die
Reihe bekommen würde. Außerdem hatte ich Szabos hundert Mäuse in der Tasche, und Geld zu haben, verbessert die
Aussichten zunächst einmal enorm. Ich hatte Ganesh nichts
von dem Geld gesagt. Ich wusste, dass ich es seiner Meinung
nach nicht hätte annehmen dürfen. Er hätte wahrscheinlich
argumentiert, dass ich damit eine Art Verpflichtung gegenüber Szabo eingegangen wäre, und das war sicherlich das,
was Vincent beabsichtigt hatte. Aber ich habe meine eigenen
Regeln.
Beim Frauenhaus war an diesem Morgen einiges los. Sie
hatten ebenfalls Besuch gehabt, seit ich das letzte Mal dort
gewesen war. Dieser Besuch hatte sich nicht damit zufrieden
gegeben, vor dem Fenster zu stehen und schwer zu atmen
wie mein nächtlicher Gast. Dieser Besuch hatte die Vordertür aus den Angeln getreten; sie lehnte jetzt nutzlos an der
Mauer. Zwei Schreiner waren damit beschäftigt, das Türblatt aus Holz zu ersetzen. Ein kahlköpfiger Glaser, der ein
Spinnennetz auf dem rasierten Schädel eintätowiert hatte,
arbeitete an dem zerbrochenen Fenster. Sie brachten alles
wieder in Ordnung – bis zum nächsten Mal. Das Frauenhaus in Stand zu halten glich wohl der sprichwörtlichen Sisyphusarbeit.
Auf dem Bürgersteig stand ein Transistorradio, aus dem
Popmusik plärrte, und zusammen mit dem Hämmern und
Sägen der Tischler und dem Schreien der Arbeiter herrschte
so ungefähr das reinste
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