Granger Ann - Varady - 05
den
Jungen gekannt. Ich habe mich furchtbar gefühlt.«
Marty bekam einen Schluckauf. Mir wurde bewusst, dass
er den Tränen nahe war. »Ich hätte dir sagen müssen, was
ich gesehen habe. Ich hätte zur Polizei gehen sollen. Doch
das habe ich nicht getan, wegen des Stücks. Es war mir irgendwie wichtiger als alles andere.« Er sah mich betrübt an.
»Aber das war es nicht, oder?«
»Du musst zu den Cops und es ihnen sagen, Marty. Inspector Janice Morgan ist die richtige Person dafür. Aber die
Dinge sind unten auf der Wache im Moment ein wenig
kompliziert. Wenn ich ein Treffen mit der Morgan hier in
meiner Wohnung vereinbaren würde, würdest du dann
kommen und ihr alles erzählen?«
Er zögerte. »Also schön«, sagte er schließlich. »Wenn ich
hier mit ihr reden kann. Ich gehe nur ungern zur Wache,
weißt du? Irgendjemand könnte mich beobachten – du
weißt ja, wie das ist – und sich fragen, was ich dort zu suchen habe.« Er beugte sich vor. »Diese Sache mit Digger. Ich
bin sicher, dass es Trevor war. Er hat mir eine Botschaft geschickt. Er weiß, dass ich ihn auf dem Bahnsteig gesehen
habe. Er vermutet wahrscheinlich, dass ich ihn zusammen
mit dem Jungen gesehen habe. Er wollte mich auf diese
Weise wissen lassen, was passiert, wenn ich mich mit ihm
anlege.«
»Marty«, sagte ich. »Das alles ist Teil einer Sache, die viel
größer ist, als du ahnst.«
Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Ions Suche nach
seinem verschwundenen Bruder, die Bande von Menschenschmugglern, hinter der die Polizei her war, der Brandanschlag auf Susie Dukes Wohnung und so weiter. Ich erzählte
ihm nichts von der Pizzeria und dem Betrug mit dem gepanschten Wein, weil ich offen gestanden verlegen war, dass
ich die Indizien falsch interpretiert hatte. Wie sich herausgestellt hatte, hatten die Besitzer des San Gennaro nichts mit
der Schleuserbande am Hut gehabt. Ion hatte sich geirrt,
und ich hatte mich von ihm auf die falsche Fährte führen
lassen.
Marty unterbrach mich nicht ein einziges Mal, während
ich erzählte. Sein Gesicht wurde blasser und blasser, und die
Angst trat immer deutlicher zu Tage. »Ich verstehe«, krächzte er mühsam, als ich geendet hatte.
»Es sind böse Menschen, Marty«, sagte ich. »Wenn du
und ich den Mund halten und nichts unternehmen, wird es
weitere Ion Popescus geben, die vor Züge stürzen oder von
Brücken oder was auch immer diesen Verbrechern gerade
passt.« Er sah nicht völlig überzeugt aus; deswegen fuhr ich
fort: »Du erinnerst dich doch daran, wie wir über meine
Rolle der Miss Stapleton in dem Stück geredet haben, oder?
Unsere Unterhaltung ging nicht wirklich um sie. Sie ging
um die Frage, ob man den Mund halten soll, wenn man das
Böse am Werk sieht. Die Cops ermitteln im Todesfall Ion
Popescu, und sie ermitteln gegen die Schleuserbande. Wenn
wir zu ihnen gehen, erzählen wir ihnen im Prinzip nichts,
was sie nicht sowieso bereits vermuten. Du kannst nicht beschwören, dass du gesehen hast, wie Ion von Trevor gestoßen wurde; trotzdem ist das, was du gesehen hast, wichtig.
Es ist ein kleines Steinchen im großen Puzzle, und ohne dieses Steinchen kann das Bild nicht fertiggestellt werden. Verstehst du, was ich meine?«
Er nickte. »Ich verstehe.«
Am Ende unseres Treffens im Regent’s Park hatte Janice
Morgan mir eine Telefonnummer gegeben, die ich anrufen
sollte, falls ich mich mit ihr in Verbindung setzen wollte.
Das tat ich jetzt, und sie kam unverzüglich zu mir nach
Hause, wo Marty seine Geschichte noch einmal erzählte.
»Ich danke Ihnen sehr«, sagte sie, als er fertig war. »Wir
melden uns bei Ihnen.«
Es ist immer wieder frustrierend, wie gleichmütig die
Cops reagieren, wenn man ihnen hilft. Trotzdem schien
Marty sich besser zu fühlen, nachdem die Morgan wieder
gegangen war. Es lastete nicht mehr auf seinem Gewissen. Er
wusste, dass er das Richtige getan hatte.
»Ich glaube, ich fahre wieder nach Wiltshire zu meinen
Eltern«, sagte er. »Meine Mutter hat gesagt, sie wünschte,
ich würde länger bleiben. Jetzt ist vielleicht ein guter Zeitpunkt dafür.« Sein rundes Gesicht wurde rosiger. »Ich laufe
nicht weg, Fran. Ich komme zurück und mache meine Aussage vor Gericht, wenn ich gebraucht werde.«
»Das nennt man einen strategischen Rückzug«, sagte ich.
»Ja, genau das. Wie steht es mit dir, Fran?«
»Ich habe niemanden, zu dem ich mich zurückziehen
könnte«, antwortete ich.
Er scharrte verlegen mit den Füßen. »Ich will einfach
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