Granger Ann - Varady - 05
um ihn abzuholen. Tatsächlich schien der Bruder wie vom
Erdboden verschluckt zu sein, einfach so. Ion hatte überall
nach ihm gefragt. Die Familie schrieb besorgte Briefe. Ion
erzählte nicht, wie diese Briefe überstellt wurden, doch ich
bezweifelte, dass es mit der normalen Post geschah. Er verriet auch nicht, wo er selbst wohnte oder ob er genügend
Geld hatte oder verdiente, um sich über Wasser zu halten;
doch ich wusste, dass es draußen eine Menge Firmen gab,
die Illegale beschäftigten und bar bezahlten. Ohne Versicherung, ohne Steuern, ohne Unterlagen und ohne Schutz vor
ungesunden oder gefährlichen Arbeitsplätzen oder Maschinen. Das Reinigungsgewerbe war bekannt dafür, häufig
Subunternehmer einzusetzen, die von zweifelhaften Mittelsmännern beliefert wurden. Was auch immer er verdiente, es war eindeutig kaum genug, um Leib und Seele einigermaßen beieinanderzuhalten.
Ion hatte sich überall erkundigt, wo es ihm möglich war,
ohne die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zu lenken
– oder das Missfallen der Erpresser. Rumänische Landsleute
waren die offensichtliche Anlaufstelle gewesen, doch sie hatten ihm nicht weiterhelfen können. Die allgemeine Meinung schien zu sein, dass der Bruder in eine andere Stadt
gezogen war.
»Aber das würde er niemals tun!«, sagte Ion ernst zu mir,
während er sich vorbeugte und Bonnie erneut aufschreckte.
Verärgert sprang sie zu Boden und legte sich vor den Gasofen. »Er wusste schließlich, dass ich kommen würde. Er
hätte auf mich gewartet. Außerdem ist da noch das Geld. Er
muss den Eltern helfen, die Schulden zurückzuzahlen. Ich
kann es nicht allein.«
Das ergab Sinn. So weit, so gut. Ich begriff, warum Ion
allmählich in Panik geriet. Wenn man neu in ein Land
kommt wie er, auf der Pritsche eines Lasters, dann ist man
nicht in der Position, mit seinen Fragen zu den Behörden zu
gehen. Man musste diskret bleiben. Abgesehen davon hatte
Ion keine Aufmerksamkeit auf sich oder seine zweifelhaften
Arbeitgeber lenken wollen. Er konnte weder zur Polizei
noch zum Sozialamt gehen. Es war ein Gradmesser für seine
Verzweiflung, dass er schließlich seine Deckung verlassen
hatte und zur Pizzeria gekommen war.
»Weil Max in der Pizzeria arbeitet und vielleicht etwas
weiß.« Seine Stimme klang schrill vor Verzweiflung, wie ein
Ertrinkender, der nach dem allerletzten Strohhalm greift.
»Aber wer ist dieser Max, Ion?«
Das Dumme war, er konnte es mir nicht sagen. Wenigstens nicht so, dass es irgendeinen Sinn ergeben hätte.
Ion erklärte, dass er nur sehr wenig über die Leute wusste, die menschliche Fracht quer durch Europa schleusten.
Sie traten nur über Mittelsmänner auf. Doch er wusste, dass
sie gefährlich waren. Man verärgerte sie nicht. Aus diesem
Grund hatte er seinem Vater noch nicht mitgeteilt, dass der
Bruder verschwunden war. Sein Vater wäre mit Sicherheit
zu dem Mann gegangen, der die Reise arrangiert hatte, und
hätte hartnäckige Fragen gestellt und Ärger gemacht. Die
Schleuser hätten davon erfahren, und das hätte ihnen nicht
gefallen. Ion musste seinen Bruder selbst finden oder zumindest in Erfahrung bringen, wohin er gegangen war, bevor die flehenden, verzweifelten Erkundigungen des Vaters
nach dem Verbleib seiner Kinder die Wahrheit ans Licht
brachten. Trotz seiner Angst vor den Schleusern hatte Ion
versucht, die einzige Person in diesem Land zu kontaktieren, von der er wusste, dass sie mit den Schleusern in Verbindung stand: den schwer zu fassenden Max.
»Aber du hast mir immer noch nicht gesagt, wer er ist oder
woher du von ihm weißt, Ion!«, bedrängte ich den Jungen.
»Du hast gesagt, du hättest gesehen, wie er in die Pizzeria gegangen ist, aber mehr Informationen hast du scheinbar
nicht. Woher also willst du wissen, dass der Mann, den du
gesehen hast, tatsächlich dieser Max war?«
An diesem Punkt wurden die Dinge vage. Ions Geschichte glitt ins Reich der Zufälle ab, nicht unbedingt etwas, das
mich mit mehr Zuversicht erfüllt hätte. Die illegalen Einwanderer waren auf einer Landstraße aus dem Wagen geworfen worden. Es war eine lange Reise gewesen, und wie
Ion einigermaßen verlegen erklärte, hatte es keinerlei Toiletteneinrichtungen gegeben. Als sie auf der Straße gestanden
hatten, war Ion prompt hinter den nächsten Busch gesprungen. Von seinem Versteck aus hatte er in der Dunkelheit der Nacht beobachtet, wie ein Wagen gekommen war.
Eine Tür war geknallt worden, und dann hatte sich der
Neuankömmling mit
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