Granger Ann - Varady - 05
leiser Stimme mit dem Fahrer des Lasters unterhalten. Der Lastwagenfahrer hatte den Mann
›Max‹ genannt. Neugierig war Ion näher herangeschlichen
und hatte durch die Zweige hindurchgespäht. Gerade rechtzeitig, um den Mann zu sehen: Max, der im Begriff stand,
wieder in seinen Wagen einzusteigen. Als er die Wagentür
geöffnet hatte, war die Innenbeleuchtung angegangen, und
das war der einzige Moment gewesen, wo er Max deutlich
hatte erkennen können. Nichtsdestotrotz hatte es gereicht.
»Ich erinnere mich ganz deutlich an ihn«, sagte Ion
grimmig.
Kurze Zeit später war ein zweiter Lastwagen eingetroffen
und hatte die Flüchtlinge nach London gebracht.
»Und wie hast du Max dann bis zur Pizzeria verfolgt?«,
verlangte ich zu wissen.
»Ich habe ihn gesehen!«, sagte Ion schlicht. »Ich habe ihn
auf der Straße gesehen. Ich bin ihm nachgegangen. Er ist in
das Restaurant gegangen. Er hat sich nicht an einen Tisch
gesetzt. Er ist ins Büro gegangen. Danach habe ich das Restaurant beobachtet. Ich habe ihn noch mal reingehen sehen. Wieder in das Büro. Er muss dort arbeiten, oder?«
Ganesh hatte mich immer davor gewarnt, dass ich eines
Tages in einem richtigen Hornissennest landen würde,
wenn ich weiter meine Nase in anderer Leute Angelegenheiten steckte.
»Es gibt kleine Schwierigkeiten, und es gibt große Schwierigkeiten, Fran«, hatte Ganesh erklärt. »Du bist ganz gut
darin, kleine Schwierigkeiten zu regeln. Aber große Schwierigkeiten sind zu viel für dich. Vergiss das nicht, und pass
auf!«
Natürlich hatte er recht. Ganesh hatte meistens recht. Ich
rang mit meinen Gefühlen. Auf der einen Seite wollte ich
Ganesh sagen, dass ich recht gehabt hatte mit meiner Vermutung, dass mit der Pizzeria irgendwas nicht stimmte.
Doch andererseits … falls es mit diesen Leuten zu tun hatte,
die sich an menschlicher Verzweiflung bereicherten, dann
waren das Schwierigkeiten von der ganz großen Sorte. Diese
zwielichtigen Gestalten waren erstens organisiert und zweitens skrupellos. Ich wusste nicht, was mit Ions Bruder geschehen war, doch in mir regte sich das üble Gefühl, dass er
ihn nicht wiedersehen würde. Er hatte Fragen gestellt, die
jüngste Rate des geschuldeten Geldes nicht zurückgezahlt
und … und Ärger gemacht? Lag sein Leichnam mit einem
Gewicht beschwert am Grund der Themse? Eingegossen in
das Fundament irgendeiner Baustelle? Unter einer neu gebauten Straße? Durfte ich Ion gegenüber von meinen Befürchtungen sprechen? Natürlich nicht.
Ion beobachtete mich mit einer Art von vertrauensseliger
Hoffnung. Meine Zuversicht schwand. Es war bereits zu
spät für einen Rückzieher.
»Ich werde sehen, was ich herausfinden kann«, sagte ich.
»Aber ich muss vorsichtig sein, das verstehst du doch sicher,
oder?«
Er nickte eifrig. Er verstand sehr wohl.
»Außerdem könnte es eine Zeit lang dauern. Warte eine
Weile, vielleicht eine Woche oder so, und dann komm wieder zu mir. Ich kann nichts versprechen. Ich kenne diesen
Max nicht, aber ich halte Augen und Ohren offen. Wenn ich
etwas herausfinde, erfährst du es von mir, wenn du das
nächste Mal kommst.«
Er sprang einmal mehr vom Sofa auf und packte meine
Hände, während er mir überschwänglich dankte.
Ich ließ ihn mit einem Gefühl wachsender Depression
nach draußen. Hatte ich nicht schon genug Scherereien?
Brauchte ich das? Der Junge zählte auf mich. Ich durfte ihn
nicht enttäuschen. Aber was um alles in der Welt glaubte ich
herauszufinden?
»Du hast es wieder einmal getan, Fran!«, schalt ich mich
laut. »Und diesmal könnte es durchaus sein, dass du dich
übernommen hast.«
Am nächsten Morgen ging es mir schon besser. Ich hatte beschlossen, Ganesh nicht die ganze Geschichte zu erzählen –
das wäre unklug gewesen –, sondern nur einen Teil, weil ihm
vielleicht etwas einfallen würde. Ich würde tun, was ich versprochen hatte: Ich würde die Augen in der Pizzeria offen
halten. Ich musste im Grunde genommen nichts weiter tun
als ein paar vorsichtige Fragen zu stellen, wenn überhaupt.
Ion würde enttäuscht sein, aber verdammt, was konnte er
anderes erwarten?
Gut gelaunt machte ich mich in aller Frühe zum Zeitungsladen auf, wo sie erfreut waren, mich zu sehen. Hari
wollte für ein oder zwei Stunden weg und wissen, ob ich so
lange aushelfen könnte? Er wäre rechtzeitig zurück, damit
ich pünktlich zu meiner Mittagsschicht in der Pizzeria gehen könnte.
Ich brachte Bonnie in den Lagerraum und gesellte mich
zu Ganesh
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