Granger Ann - Varady - 05
feindselig.
»Beide tot.«
Diese Antwort brachte mir unerwartetes Mitgefühl ein.
»Das ist traurig«, sagte er. »Das tut mir leid.«
»Kein Ehemann?«, lautete ein paar Minuten später seine
nächste Frage.
»Kein Ehemann, keine Familie, niemand«, antwortete
ich. »Wie ist es mit dir?«
»Ich habe auch niemanden«, antwortete er prompt, doch
ich wusste, dass er log.
Wir erreichten das Haus. Er blieb draußen stehen und
musterte es, insbesondere die erleuchteten Fenster der anderen Wohnungen.
»Wer wohnt hier?«
»Leute wie ich.«
Vielleicht war er noch nicht vielen Leuten wie mir begegnet, denn meine Antwort reichte ihm nicht.
»Wer wohnt dort?« Er deutete auf das Fenster der anderen Erdgeschosswohnung, die im Dunkeln lag.
»Jemand namens Erwin. Ein Musiker. Er ist jetzt wahrscheinlich auf der Arbeit.«
Er zeigte nacheinander auf sämtliche anderen Fenster in
der Fassade des Hauses und wollte von jeder Wohnung wissen, wer dort lebte. Offen gestanden wusste ich selbst nicht
so genau Bescheid über meine Nachbarn, doch es gelang
mir immerhin, ihn mit meinen Antworten zu befriedigen.
Er war noch immer nervös. Ich führte ihn durch die
Haustür in den Flur, doch an meiner Wohnungstür zögerte
er erneut und verdrehte angstvoll die Augen, als weiter oben
im Treppenhaus eine Tür geschlagen wurde. Ein Schwall
Rockmusik durchflutete das Treppenhaus, ein paar Gesprächsfetzen, und beides verstummte Augenblicke später
nach einem zweiten Türenschlagen wieder. Mein Begleiter
machte einen Schritt in Richtung Ausgang. Glücklicherweise kam niemand die Treppe herunter. Wäre es so gewesen,
er hätte die Flucht ergriffen, und ich wäre nicht imstande
gewesen, ihn daran zu hindern.
»Siehst du?«, sagte ich. »Es sind alles ganz normale Leute,
so wie ich, die den Abend zu Hause verbringen.«
Ich steckte den Schlüssel ins Schloss meiner Tür und ging
voraus. Im Flur schaltete ich sämtliche Lichter ein. Der Junge schob sich vorsichtig in die Wohnung, bereit, jederzeit
nach draußen zu springen, während ich umherging, um
ihm zu demonstrieren, dass sich niemand bei der tropfenden Wäsche in der Dusche versteckte oder in der kleinen
Kochnische. Schließlich kam er näher, setzte sich auf meine
Sofakante und schien sich ein klein wenig zu entspannen.
Bonnie sprang neben ihn, und als ich mit zwei Bechern Kaffee hinzukam, hatte sie den Kopf auf seinen Oberschenkel
gelegt und es sich gemütlich gemacht.
»Also, dieser Max«, fing ich an. »Warum glaubst du, dass
er in der Pizzeria arbeitet?«
»Ich habe ihn dort gesehen.« Er hielt den Kaffeebecher in
beiden Händen und sah mich über den Rand hinweg an.
Sein Gesichtsausdruck warnte mich, ja nicht die Existenz eines Mannes mit Namen Max in der Pizzeria zu bestreiten.
Es war eine eigenartige Mischung aus Angst und Aggressivität, wie ein verletzter, in die Ecke gedrängter Hund, der
nach den Händen seiner prospektiven Retter schnappt.
Geduldig sagte ich: »Es ist ein Restaurant. Ständig kommen und gehen Gäste.«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Kein Gast. Nicht dort essen. Er geht in Büro.« Er lächelte gepresst. »Ich beobachten.«
Ich war verblüfft. Jimmies Büro? Das ergab keinen Sinn.
Jimmie hatte so offensichtlich überhaupt nichts mit den Abläufen in der Pizzeria zu schaffen, dass sein Büro ganz bestimmt der letzte Ort war, den jemand mit ernsten Geschäftsabsichten betreten würde.
Nur um sicher zu sein, fragte ich: »Wie sieht er denn aus,
dieser Max? Hat er rote Haare?«
Ich rieb über mein eigenes kurz geschorenes Haar, das ein
wenig rötlich braun schimmert. »Heller als meine? Rötlich,
wie …«, ich schaute mich suchend um und landete bei dem
schmutzig-orangenen Kaffeebecher.
»Nein«, antwortete der Junge entschieden.
Damit war Jimmie außen vor. Sein einst rotes Haar war
verblasst und von grauen Strähnen durchzogen, doch der
sandfarbene Ton war noch immer zu erkennen.
»Grau? Silber?«
Erneutes Kopfschütteln. Damit war auch Silvio außen
vor. »Was für eine Haarfarbe?«, fragte ich.
Der Junge ließ die Schultern hängen. »Ein wenig braun,
ein wenig grau.«
Das half mir nicht weiter, doch es deutete auf einen nicht
mehr ganz jungen Mann hin. Luigi war Ende zwanzig, besaß
pechschwarze Haare und hielt sich für einen Ladykiller.
Pietro hatte glatte blonde Haare.
Ich fragte ihn, ob er mir eine genauere Beschreibung von
Max liefern könne, und er antwortete, dass Max ein dicker
Mann sei.
»Wie dick?«, fragte ich.
»Sehr
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