Granger Ann - Varady - 05
bereitwillig dehnte, doch dann war es vorbei. Er kam schlitternd
zum Stehen, und der Mann drehte ihn in die Richtung um,
aus der der Junge gekommen war, mir zugewandt.
Ich kam außer Atem bei den beiden an. »Was hat er geklaut?«, fragte mich der untersetzte Mann.
Offensichtlich dachte er, der Junge wäre entweder ein Ladendieb oder hätte mir die Geldbörse gestohlen.
»Nichts«, versicherte ich ihm.
Der Mann runzelte die Stirn. »Diese Kinder hängen ständig
hier rum. Sie sind so verdammt schnell, dass man sie nicht
mal bemerkt. Wir haben ein System, wir Händler. Sobald wir
einen von den uns bekannten sehen, rufen wir die anderen
Händler an und warnen sie, die Augen offen zu halten.«
»Kennen Sie den da?«, fragte ich.
Der Untersetzte schüttelte den Knaben wie ein großer
Hund, der eine Ratte gefangen hat. »Kann schon sein. Diese
Burschen sehen alle gleich aus.«
»Er ist kein Dieb«, erklärte ich deutlich.
»Was wollen Sie dann von ihm?« Der Mann schaute mich
misstrauisch an.
»Es ist ein … eine häusliche Angelegenheit«, sagte ich.
»Er ist mein, äh, Cousin.«
Beinahe hätte ich ›Bruder‹ gesagt, doch wenn der Junge
den Mund aufmachte, würde der Untersetzte sofort merken, dass er nur wenig Englisch beherrschte, und die Brudergeschichte nicht schlucken.
Der Mann ließ seinen Gefangenen los und versetzte ihm
zugleich einen Stoß nach vorn, sodass der Knabe in meine
Arme stolperte.
»Sie können ihn haben, da«, sagte der Untersetzte.
»Nehmen Sie ihn einfach mit, und bringen Sie ihn weg von
hier, okay?« Er sammelte die restlichen Kleidungsstücke ein
und ging mit ihnen und der Stange zurück in seinen Laden.
Dann sperrte er von innen ab, hing das ›Closed‹-Schild in
die Tür und blieb dahinter stehen, um uns zu beobachten.
Der Junge stand vor mir, immer noch außer Atem, rollte
mit den Augen und sah zu Tode verängstigt aus.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte ich beschwörend. »Du
musst nicht vor mir wegrennen, okay? Ich bin allein. Nur
ich und mein Hund, okay?«
Er schaute auf Bonnie hinunter, die freudig mit dem
Stummelschwanz wackelte. Bonnie hat ein gutes Gespür für
den Charakter von Menschen.
»Ich wollte mir gerade etwas zu essen kaufen«, sagte ich
zu dem Jungen. »Möchtest du ein Kebab?«
Er musterte mich misstrauisch. »Kommst du von Max?«
Er war noch immer auf den verdammten Max fixiert. Ich
seufzte.
»Nein. Ich kenne überhaupt keinen Max. Aber ich würde
gerne mit dir über Max reden.«
Er schob sich vorsichtig weiter von mir weg. »Kann nicht
mit Leuten reden.«
»Du kannst mit mir reden, okay? Ich arbeite in der Pizzeria. Wenn es dort einen Max gibt, dann will ich ihn ebenfalls
finden. Ich habe meine eigenen Gründe, okay?«
Seine dunklen Augen musterten mich ununterbrochen,
während wir redeten, und ich konnte die Zahnrädchen in
seinem Kopf beinahe hören, so angestrengt überlegte er.
Sein Instinkt sagte ihm immer noch, dass er flüchten sollte,
doch ich war auf der anderen Seite vielleicht die einzige
Spur zu Max, die er bekommen würde. Wir waren uns beide
bewusst, dass uns der Untersetzte noch immer hinter seiner
Ladentür beobachtete. Der Junge beschloss, das Risiko einzugehen.
»Also gut«, sagte er widerwillig.
Ich schlug vor, dass wir das Essen mit zu mir nach Hause
nahmen, und nach einigem Zögern willigte er ein. Es war
ein eigentümlicher Heimweg. Manchmal ging er neben mir
her, und manchmal ließ er sich zurückfallen. Jedes Mal,
wenn er das tat, dachte ich, er hätte seine Meinung geändert
und würde erneut Fersengeld geben. Zweimal drehte ich
mich zu ihm um und dachte schon, er wäre verschwunden,
doch er war immer noch da und beobachtete mich misstrauisch. Ich wusste, dass er nach wie vor unentschlossen
war, ob er mit in meine Wohnung gehen sollte oder nicht.
Vielleicht erwartete er eine Falle oder etwas in der Art. Ich
sah, wie er Seitengassen und niedrige Mauern musterte. Er
plante einen Fluchtweg, für den Fall, dass es nötig wurde.
»Deine Wohnung … Wer ist noch da?«, fragte er unvermittelt.
»Nur ich allein. Andere Leute wohnen im Haus, aber ich
wohne allein in meiner Wohnung.«
Er sah aus, als glaubte er mir nicht so recht. Eine junge
Frau, die ganz für sich allein in einer Wohnung wohnte, war
zweifellos etwas, das seinen Erfahrungshorizont überstieg.
Vielleicht hatte er geglaubt, dass ich im Mondlicht anschaffen ging, sobald ich in der Pizzeria Feierabend hatte.
»Dein Vater, deine Mutter?«, fragte er recht
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