Granger Ann - Varady - 05
gebraucht wurde, und redete mit niemandem ein
Wort, nicht einmal mit mir. Carmel, unsere rothaarige Revolutionärin, war die Erste, die beschloss, dass sie die Nase
voll hatte. Sie wandte sich gegen Marty und brüllte ihn an,
dass er sich sein dämliches Stück an den Hut schmieren
könne.
Der Rest von uns stellte sich wie ein Mann hinter sie und
machte klar, dass wir ausnahmslos Freiwillige seien, die viel
von ihrer Freizeit geopfert hätten, ohne viel Aussicht auf Belohnung, und dass wir alle unser Bestes gaben.
»Euer Bestes?«, rief ein untröstlicher Marty. »Glaubt ihr,
wenn ein Regisseur seinen Top-Schauspielern erklärt, was er
will, drehen sie sich um und sagen, das reicht jetzt, wir tun
ja unser Bestes?«
»Wir sind nicht die verdammte Royal Shakespeare Company!«, kreischte Carmel.
»Nur zu wahr!«, konterte Marty.
An dieser Stelle drohte die Theaterprobe in eine unziemliche Prügelei auszuarten. Owen und Nigel äußerten nachdrückliche Proteste gegen eine derartige Behandlung und
waren ganz erpicht darauf, auf der Stelle zurückzuschlagen.
Carmel sah aus, als würde sie sich jeden Moment auf Marty
stürzen und ihm die Nase einschlagen.
»Das ist total unprofessionell«, sagte Ganesh leise aus seiner Schmollecke. »Wir sollten uns hinsetzen und vernünftig
über unsere Probleme reden.«
Einen Augenblick lang fürchtete ich bereits, sie könnten
sich alle gegen Marty wenden, doch die Aggression schien
mit einem Mal zu verfliegen. Wir zogen Stühle heran, bildeten einen Kreis und führten eine einigermaßen vernünftige
Diskussion über all die kleinen Unzulänglichkeiten, die
Marty so sehr auf die Palme brachten.
Ich saß neben unserem Regisseur und machte mir ernsthafte Sorgen, dass er auf einen Herzinfarkt zusteuerte. Sein
rundliches Gesicht leuchtete in einem ungesunden Rot, und
er schwitzte aus allen Poren.
»Es kommt schon alles in Ordnung, Marty, keine Sorge«,
versicherte ich ihm, als wir endlich fertig waren.
Er bedachte mich mit einem verlegenen Seitenblick und
antwortete zunächst nicht. Dann sagte er unvermittelt: »Ich
habe alle anderen gefragt, wie sie ihre Rollen sehen, nur dich
habe ich noch nicht gefragt. Wie siehst du Mrs Stapleton?«
Ich verstand, worauf er hinauswollte. Wenn Schauspieler
auf die Bühne gehen, dann schlüpfen sie mit Haut und Haaren in die Rolle der Person, die sie spielen. Es ist, als würde
sich die natürliche Ordnung der Dinge verkehren. Die richtige Person wird abgelegt, und man wird zu dem Menschen,
den man dem Publikum präsentiert – wie sonst soll die Rolle glaubwürdig erscheinen? Während ich auf der Bühne war, war ich Mrs Stapleton. Ich musste sie also in- und auswendig kennen und verstehen.
»Sie ist eine Frau, die es schwer gehabt hat, nicht wahr?«,
sagte ich. »Das finden wir am Ende des Stücks heraus. Sie
hat sich mit einem Schwein von Mann eingelassen, der sie
ständig verprügelt, bereits einmal gemordet hat und einen
weiteren Mord plant. Als Teil dieses Plans besteht er darauf,
dass sie sich als seine Schwester ausgibt, obwohl sie in Wirklichkeit seine Frau ist. Sie wird tiefer und tiefer in die Sache
hineingezogen. Abgesehen von zwei halbherzigen Versuchen, Sir Henry zu warnen, ohne deutlicher zu werden, was
die Gefahr anbelangt, in der er schwebt, macht sie bei allem
mit, was Stapleton von ihr verlangt, bis hin zum letzten Augenblick, als sie sich endlich gegen ihn auflehnt.«
»Dann ist sie eine Schurkin, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht.
Stapleton ist ein böser Mensch, doch Doyle deutet niemals
an, dass Beryl Stapleton genauso ist. Sie steht unter seinem
Einfluss. Doyle hat für eine Weile als Arzt praktiziert. Jede
Wette, dass geschlagene Frauen in seiner Zeit keine Ausnahme waren. Er verstand sie sehr gut.«
»Sie macht also bei seinen Plänen mit, weil sie Angst vor
ihm hat?« Marty starrte mich aufmerksam an. Er schwitzte
immer noch.
»Sie hat Angst vor ihm, das ist wahr. Er war ihr gegenüber gewalttätig. Doch sie redet sich immer noch ein, dass
er sie eigentlich liebt. Es gibt eine Menge Frauen in dieser
Art von Situation. Sie bleiben mit Männern zusammen, die
sie geradezu widerlich behandeln. Das Schlimmste für sie
wäre es, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass sie nicht geliebt werden.«
Marty stieß ein Grunzen aus, und ich war nicht sicher, ob
er mit mir einer Meinung war oder nicht. Doch ich nahm
nicht an, dass er im wirklichen Leben je einer misshandelten
Frau
Weitere Kostenlose Bücher