Granger Ann - Varady - 05
Lichtern der Großstadt darunter
herrührt. Unten auf der Straße ist jenes eigenartige Halbdunkel noch offensichtlicher. Es ist eine nächtliche Welt, die
niemals wirklich dunkel wird, und doch lauert die Dunkelheit überall, in Seitengassen und Hauseingängen, wo sie fast
körperlich spürbar ist. Vielleicht wandern verlorene Seelen
in einem ähnlichen, ewig währenden Halbdunkel durch eine mystische Unterwelt – auch wenn genau genommen bereits zahlreiche Vertreter dieser Spezies durch die Straßen
Londons irrten. London bei Nacht ist das Königreich von
Dis.
Gegen drei Uhr morgens hatte es geregnet. Ich hatte die
Tropfen an meiner Fensterscheibe gehört. Das nasse Pflaster
glänzte stumpf im Licht der Straßenbeleuchtung. Windböen
trieben Müll vor sich her. Papier raschelte zu meinen Füßen. Eine leere Dose rollte laut in den Gully. Irgendjemand
hatte eine Styroporverpackung mit einem nur halb aufgegessenen Hühnchentikka in unseren Windfang geworfen.
Jemand anders – oder vielleicht die gleiche Person – hatte
sich neben dem Tor zum nächsten Haus übergeben. Es war
bitterkalt.
Doch in einer so großen Stadt sind stets Menschen unterwegs, selbst zu dieser unchristlichen Stunde. Einige von
ihnen sind jene verlorenen Seelen, die ich bereits erwähnt
habe, andere ehrbare Bürger, die in aller Frühe zur Arbeit
gehen. Während Susie und ich zu dem alten Kino fuhren,
passierten wir immer wieder Gestalten, die mit eingezogenen Schultern durch die Straßen trotteten oder elend in
Schlangen an Bushaltestellen anstanden. Jeder war bis zu
den Ohren in warme Sachen gehüllt und in seiner ganz persönlichen Welt aus Unbehagen und Widerwillen gefangen.
Niemand sah nach rechts oder links. Gelegentlich glitt ein
hell erleuchteter Bus durch die Straßen wie ein Ozeanliner
auf einem dunklen, feindseligen Meer. Die Fahrgäste darin
sahen verschlafen und blass aus.
In der Gegend um das alte Kino herum war alles still. Geschäfte wie die, die es hier gab, öffneten nicht vor neun Uhr
morgens. Susie, die immer noch eine für diese Tageszeit definitiv unanständig gute Laune ausstrahlte, sperrte das Vorhängeschloss auf und öffnete das Tor. Ich fuhr hindurch,
und sie schloss hinter uns wieder ab.
»Nur für den Fall«, sagte sie, als sie in den Wagen stieg.
»So, jetzt fährst du nach hinten auf den Hof, und sobald ich
mit der Hand auf das Armaturenbrett schlage, machst du
eine Vollbremsung, auf der Stelle!«
»Das ist lächerlich!«, sagte ich.
»Nein, ist es nicht. Du sammelst außerdem gleichzeitig
Erfahrung, was das Fahren in schlechtem Licht angeht, auch
wenn es nicht ganz dunkel ist.«
Um fair zu sein, die Straßenbeleuchtung ringsum und die
hellen Schaufenster bedeuteten, dass es auf dem Hof tatsächlich nicht stockdunkel war. Trotzdem kam er mir wie
ein großes, bedrohlich düsteres Nichts vor.
»Ich kann nicht erkennen, was vor den Scheinwerfern
liegt, nicht richtig jedenfalls«, erklärte ich stur, während ich
angestrengt durch die Windschutzscheibe nach vorn spähte.
»Genau. Deswegen musst du jederzeit bereit sein zu
bremsen, selbst wenn ich nicht auf das Armaturenbrett
schlage.«
Ich fuhr einmal äußerst langsam um den gesamten Hof
herum, um mich zu orientieren und die Ecken zu untersuchen. Vielleicht verbarg sich dort irgendein alter Penner, der
über die Mauern geklettert war, um ungestört zu schlafen,
und mir nun überraschend vor die Räder springen konnte.
Doch wie es aussah, hatten wir den Hof für uns allein. Meine Augen gewöhnten sich rasch an die Schatten, und dann
war es nicht mehr ganz so dunkel und beängstigend wie zuvor.
Ich machte auf Susies Zeichen hin drei aufeinanderfolgende Notbremsungen. Dann befahl sie mir, bis ganz dicht
an die gegenüberliegende Mauer zu fahren. Ich sah auf meine Uhr. Es war fast halb acht. Langsam zog die Morgendämmerung herauf, und der Himmel über uns begann, in
einem schwachen Dunkelblau zu leuchten. Susie kramte in
einer Baumwolltasche, die sie mitgebracht hatte, und brachte eine Thermoskanne, zwei Plastiktassen und eine Ausgabe
des Highway Code zum Vorschein.
»Trinken wir einen Kaffee«, sagte sie. »Das wärmt uns
beide auf. Anschließend stelle ich dir ein paar Fragen.«
Ich nahm den Kaffee entgegen, und wir saßen schweigend da und tranken. Ich dachte nicht an den Highway Code , obwohl ich es hätte tun sollen.
»Susie«, sagte ich schließlich. »Ich habe gestern Ganesh
besucht. Er ist absolut dagegen, dass ich für dich arbeite.
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