Grant County 03 - Dreh dich nicht um
bringen, die Augen zu öffnen. »Tessie? O Gott, was ist passiert?«
Tessa reagierte nicht. Sie rührte sich auch nicht, als Sara das Stück abgerissene Kopfhaut zurück an seinen Platz schob und Tessas Lider anhob, um ihre Pupillen zu untersuchen. Sara versuchte, den Puls zu messen, doch sie zitterte so stark, dass sie nur ein makabres Muster blutiger Fingerabdrücke an Tessas Hals hinterließ. Sie drückte das Ohr auf Tessas Brust, der feuchte Stoff klebte ihr an der Wange, als sie versuchte, Lebenszeichen zu finden.
Während sie lauschte, sah sie zu Tessas Bauch hinunter, zu Tessas Baby. Blut und Fruchtwasser rannen aus der unteren Stichwunde wie aus einem undichten Wasserhahn. Ein Stück Darm quoll aus dem großen Schnitt im Kleid. Sara schloss die Augen und hielt die Luft an, bis sie endlich das schwache Schlagen von Tessas Herz spürte und das fast unmerkliche Heben und Senken ihres Brustkorbs.
»Tess?«, flüsterte Sara. Sie setzte sich auf und wischte sich mit dem Arm das Blut vom Gesicht. »Tessie, bitte wach auf.«
Hinter ihr trat jemand auf einen Zweig, und Sara drehte sich mit hämmerndem Herz um. Dort stand Brad Stephens und sperrte den Mund auf. Sprachlos starrten sie einander an. Sara brachte kein Wort heraus. Sie wollte schreien, er solle Jeffrey holen, etwas tun, doch es kam nichts heraus.
»Ich hole Hilfe«, stammelte Brad, seine Schritte klangen dumpf auf dem Waldboden, als er den Weg zurückrannte.
Sara sah ihm nach, bis er hinter der Biegung verschwunden war, dann wandte sie sich wieder Tessa zu. Das hier war nicht die Wirklichkeit. Sie befand sich in irgendeinem schrecklichen Albtraum, und bald wachte sie auf, und alles war vorbei. Das war nicht Tessa – ihre kleine Schwester, die Sara, seit sie klein war, immer und überall hinterherlief. Tessa hatte nur einen kleinen Spaziergang gemacht, sich ein Plätzchen gesucht, um ihre Blase zu entleeren. Sie lag nicht blutend hier auf dem Boden, wo Sara nichts anderes tun konnte, als ihre Hand zu halten und zu weinen.
»Alles wird gut«, sagte sie und griff nach Tessas Hand. Irgendetwas klebte ihr zwischen den Fingern. Als Sara nachsah, fand sie in ihrer Hand einen weißen Plastikfetzen.
»Was ist das?«, fragte sie. Jetzt schloss Tessa die Hand um die ihrer Schwester. Sie stöhnte.
»Tessa?«, rief Sara und vergaß den Plastikfetzen. » Tessa, sieh mich an.«
Ihre Augenlider flatterten, doch sie öffneten sich nicht.
»Tess? Tess, bleib bei mir. Sieh mich an.«
Langsam öffnete Tessa die Augen und stöhnte: »Sara …«
Dann flatterten ihre Lider wieder und schlossen sich.
»Tessa, nicht die Augen zumachen!«, befahl Sara, dann drückte sie Tessas Hand. »Spürst du das? Rede mit mir. Spürst du, wenn ich deine Hand drücke?«
Tessa nickte und öffnete die Augen, als wäre sie gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht.
»Kannst du richtig atmen?«, fragte Sara. Ihre Stimme war schrill. Sie versuchte, sich zusammenzureißen, denn sie wusste, alles würde nur schlimmer, wenn sie sich die Panik anmerken ließ. »Hast du Schmerzen beim Atmen?«
Kaum merklich schüttelte Tessa den Kopf.
»Tess?«, fragte Sara weiter. »Wo tut es weh? Wo tut es am meisten weh?«
Tessa antwortete nicht. Zögernd fuhr sie sich mit der Hand über den Kopf und berührte die Stelle, wo die Kopfhaut lose auflag. Ihre Lippen zitterten, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauchen, als sie fragte: »Was ist passiert?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Sara. Sie musste Tessa jetzt unbedingt wach halten.
Tessa fasste sich an den Kopf, doch Sara griff nach ihrer Hand. Tessa fragte wieder: »Was …« Dann verlor sich ihre Stimme.
Neben ihr, in der Nähe ihres Kopfes, lag ein großer Stein, an dem Blut und Haare klebten. »Hast du dir beim Fallen den Kopf aufgeschlagen?« So musste es gewesen sein.
»Ich weiß nicht …«
»Hat dich jemand mit einem Messer angegriffen, Tessa?«, fragte Sara. »Erinnerst du dich daran, was passiert ist?«
Tessas Gesicht war angstverzerrt, als sie sich mit der Hand über den Bauch fuhr.
»Nein«, sagte Sara. Wieder nahm sie Tessas Hand.
Dann knackte es hinter ihnen, und jetzt rannte Jeffrey auf sie zu. Er sank an Tessas anderer Seite auf die Knie und fragte atemlos: »Was ist passiert?«
Jetzt konnte Sara die Tränen nicht mehr zurückhalten.
»Sara?« Doch vor Schluchzen konnte sie nicht antworten.
»Sara«, wiederholte Jeffrey. Er packte sie an den Schultern und befahl: »Sara, reiß dich zusammen. Hast du gesehen, wer das getan
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