Grant County 03 - Dreh dich nicht um
Jeffrey zuckte zurück. Matt drehte sich würgend weg.
»Aha«, sagte Sara. Etwas anderes fiel ihr nicht ein.
Der untere Teil des Penis war fast vollständig gehäutet. Ein zehn Zentimeter langer Hautlappen hing lose von der Eichel, eine Reihe von hantelförmigen Piercing-Steckern durchbohrte in regelmäßigen Abständen das Fleisch.
Sara kniete sich hin, um die Verletzung näher zu betrachten. Hinter ihr atmete einer der Männer scharf durch die Zähne ein, als sie die Haut zurück an ihre ursprüngliche Position brachte und den gezackten Rand der Stelle untersuchte, wo das Fleisch vom Glied abgerissen war.
Jeffrey fand als Erster die Sprache wieder. »Was zum Teufel ist das?«
»Body-Piercing«, sagte Sara. »Die so genannte Frenum-Ladder.« Sie zeigte auf die Metallstecker. »Die Dinger sind ziemlich schwer. Durch den Aufprall haben sie die Haut abgezogen wie einen Strumpf.«
»Scheiße«, murmelte Chuck noch einmal, als er die Wunde unverhohlen anstarrte.
Jeffrey schüttelte den Kopf. »Hat er sich das selbst angetan?«
Sara zuckte die Schultern. Intimschmuck war nicht unbedingt die Regel in Grant County, aber Sara hatte in der Klinik immer wieder Jugendliche mit entzündeten Piercings behandelt. Sie wusste, was es da draußen alles gab.
»Mannomann.«, flüsterte Matt und scharrte im Staub. Er hatte sich noch nicht wieder umgedreht.
Sara zeigte auf den feinen Goldring im Nasenflügel des Jungen. »Dort ist die Haut dicker, daher ist sie nicht ausgerissen. Und die Augenbraue …« Sie suchte den Boden ab und entdeckte einen weiteren Goldring, der im Lehm steckte. »Vielleicht hat er sich beim Aufprall geöffnet.«
Jeffrey deutete auf die Brust. »Was ist damit?«
Eine feine Blutspur endete etwa eine Handbreit unter der Brustwarze, die aufgerissen war. Aufs Geratewohl suchte Sara im Hosenbund. Zwischen dem Reißverschluss und den Boxershorts steckte ein dritter kleiner Ring. »Gepiercte Brustwarze«, sagte sie und hob den Ring auf. »Hast du eine Tüte dafür?«
Jeffrey holte einen Plastikbeutel heraus und hielt ihn ihr angewidert hin. »Ist das alles?«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte sie.
Sie drückte dem jungen Mann mit Daumen und Zeigefinger den Mund auf. Vorsichtig griff sie hinein.
»Wahrscheinlich ist die Zunge auch gepierct«, erklärte sie, während sie den Muskel abtastete. »Die Spitze ist gespalten. Genaueres weiß ich, wenn ich ihn auf dem Tisch habe, aber ich gehe davon aus, dass der Zungenstecker noch im Rachenraum ist.«
Noch in der Hocke zog sie die Handschuhe aus. Sie musste versuchen, das Opfer als Ganzes zu sehen und nicht als Summe seiner gepiercten Teile. Er war ein durchschnittlich gut aussehender Junge – abgesehen von dem Blut, das ihm als dünnes Rinnsal aus der Nase rann und sich um seine Lippen sammelte. Am rundlichen Kinn wuchs ein flaumiges rotblondes Ziegenbärtchen, die Koteletten waren lang und dünn und umrandeten das Gesicht wie ein glänzendes Band.
Chuck trat einen Schritt vor, um besser sehen zu kommen. Sein Mund klappte auf. »O Scheiße. Das ist – verdammt …«
Stöhnend schlug er sich mit der Hand auf die Stirn. »Mir fällt der Name nicht ein. Seine Mutter arbeitet im College.«
Sara sah, wie Jeffrey die Schultern hängen ließ. Der Fall war soeben zehnmal komplizierter geworden.
Oben von der Brücke rief Frank herunter: »Hab einen Brief gefunden.«
Obwohl sie Frank selbst auf die Suche geschickt hatte, war Sara überrascht. Sie hatte eine Menge Selbstmorde gesehen, und an diesem hier war irgendetwas nicht ganz sauber.
Jeffrey sah sie aufmerksam an, als versuchte er, ihre Gedanken zu lesen. »Glaubst du immer noch, dass er gesprungen ist?«
Sara ließ sich nicht festlegen. »Sieht so aus, oder?«
Er überlegte einen Augenblick, dann sagte er laut: »Wir suchen die ganze Umgebung ab.«
Chuck wollte seine Hilfe anbieten, doch Jeffrey stellte ihn kalt. »Chuck, können Sie hier bei Matt bleiben und ein Foto von dem Gesicht des Jungen machen? Ich möchte es der Frau zeigen, die ihn gefunden hat.«
»Äh …« Anscheinend wollte Chuck sich rausreden – nicht, weil er nicht bleiben wollte, sondern weil er sich von Jeffrey nicht herumkommandieren ließ.
Zu Matt, der sich endlich umgedreht hatte, sagte Jeffrey: »Mach ein paar Fotos.«
Matt nickte steif. Sara fragte sich, wie er, ohne das Opfer anzusehen, die Fotos zustande bringen würde. Chuck dagegen schien sich nicht satt sehen zu können. Wahrscheinlich hatte er noch nie eine Leiche gesehen.
Weitere Kostenlose Bücher