Grant County 03 - Dreh dich nicht um
befragte, die die Leiche gefunden hatte. Brad Stephens winkte, und Sara winkte zurück. Wenn sie schon vom Aufstieg außer Atem war, musste Tessa erst recht gekeucht haben. Vielleicht hatte sie eine Pause gemacht. Vielleicht war sie von einem Tier angegriffen worden. Vielleicht hatten die Wehen eingesetzt. Bei dem letzten Gedanken wandte sich Sara wieder um und folgte einem ausgetretenen Weg in den Wald. Dort angekommen, sah sie sich um.
»Tess?«, rief Sara und versuchte, nicht wütend zu klingen. Wahrscheinlich war Tessa einfach losgelaufen und hatte die Zeit vergessen. Sie trug seit ein paar Monaten keine Uhr mehr, weil ihre Handgelenke zu dick für das Metall-Armband geworden waren.
Sara lief tiefer in den Wald und rief lauter: » Tessa?«
Trotz des sonnigen Tages war es dunkel im Wald, die Äste der hohen Bäume griffen ineinander und ließen kaum Licht durch. Sara beschirmte die Augen, als ob ihr das helfen würde, besser zu sehen.
»Tess?«, versuchte sie es wieder, dann zählte sie bis zwanzig.
Keine Antwort.
Der Wind raschelte im Laubwerk, und Sara spürte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Sie rieb sich die nackten Arme, dann lief sie weiter den Weg entlang. Nach knapp zehn Metern traf sie auf eine Weggabelung. Sara überlegte, welche Richtung sie einschlagen sollte. Beide Wege sahen gleich ausgetreten aus, und auf beiden sah sie die Abdrücke von unzähligen Turnschuhen. Sie kniete sich hin, um nachzusehen, ob sie zwischen den gezackten Profilabdrücken die glatten Sohlen von Tessas Sandalen entdeckte, als sie hinter sich ein Geräusch hörte.
Sie zuckte zusammen. »Tess?« Doch es war nur ein Waschbär, der von der unverhofften Begegnung genauso überrascht war wie Sara. Sekundenlang starrten sie einander an, dann rannte der Waschbär zurück ins Unterholz.
Sara stand auf und klopfte sich die Erde von den Händen. Sie lief nach rechts, dann ging sie zurück und malte mit dem Absatz einen einfachen Pfeil in den Boden, der die Richtung wies. Sie fühlte sich albern, aber über die übertriebene Vorsicht konnte sie später immer noch lachen, wenn sie Tessa nach Hause fuhr.
»Tess?« Sie brach einen herabhängenden Zweig ab und lief weiter. »Tess?«, rief sie wieder, dann hielt sie wartend inne, doch es kam keine Antwort.
Weiter vorn sah Sara, dass der Weg eine leichte Biegung machte und sich dann erneut verzweigte. Sie überlegte, ob sie Jeffrey holen sollte, entschied sich aber dagegen. Wieder kam sie sich albern vor, doch die Angst tief in ihrem Innern konnte sie nicht ganz unterdrücken.
Sara lief weiter und rief dabei immer wieder Tessas Namen. Bei der nächsten Abzweigung blieb sie stehen. In einem spitzen Winkel trennten sich die beiden Wege, der rechte machte nach ungefähr dreißig Metern eine scharfe Biegung. Der Wald war noch dunkler hier, und Sara musste sich anstrengen, um überhaupt noch etwas zu sehen. Sie wollte gerade ein Zeichen auf dem linken Weg malen, als eine Alarmglocke in ihr zu schrillen begann. Es war, als hätten ihre Augen eine Weile gebraucht, um das Bild an den Kopf weiterzugeben. Sara suchte noch einmal den rechten Weg ab und entdeckte einen seltsamen flachen Stein kurz vor der scharfen Biegung. Nach ein paar Schritten begann sie zu laufen – der Stein war eine von Tessas Sandalen.
»Tessa!«, schrie sie, packte den Schuh und drückte ihn an sich, während sie voller Panik weiterrannte. Dann ließ sie den Schuh fallen. Ihr schwindelte. Ihre Kehle zog sich zusammen. Das Unbehagen, das sie unterdrückt hatte, wurde zu blankem Entsetzen. Vor ihr auf der Lichtung lag Tessa, eine Hand auf dem Bauch, die andere seitlich abgewinkelt. Ihr Kopf war unnatürlich verdreht, die Lippen leicht geöffnet, die Augen geschlossen.
»Nein – « Sara stöhnte und rannte zu ihrer Schwester. Die zehn Meter dehnten sich wie Kilometer. Eine Million Möglichkeiten schossen Sara durch den Kopf, aber keine davon bereitete sie auf das vor, was sie fand.
»O Gott«, stöhnte sie und sank mit weichen Knien zu Boden. »O nein …«
Jemand hatte Tessa mit einem Messer angegriffen. Sie hatte mindestens zwei Stichwunden im Bauch und eine in der Brust. Überall war Blut, Blut färbte das Violett von Tessas Kleid schwarz. Sara sah ihrer Schwester ins Gesicht. Ein Teil ihrer Kopfhaut war abgerissen und hing ihr ins linke Auge, das rote Fleisch leuchtete in krassem Kontrast zu ihrer blassen Haut.
Sara schrie: »Nein … Tess … nein …!« Sie berührte Tessas Wange, versuchte sie dazu zu
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