Grant County 03 - Dreh dich nicht um
Wunder, dass Jeffrey sie aus der Mannschaft gemobbt hatte. Er hatte ja auch Recht: Lena war einfach unzuverlässig. Er konnte ihr nicht mehr vertrauen. Sie hatte ihm häufig genug bewiesen, dass sie sein Vertrauen nicht verdiente. Diesmal hatte sie ihn vielleicht sogar den Mann gekostet, der Tessa Linton auf dem Gewissen hatte.
»Kommen Sie schon, Adams«, bellte Chuck über die Schulter zurück. Er war ein paar Schritt voraus, und sie starrte wütend auf seinen Rücken.
»Kommen Sie schon, Adams, so ein Spaziergang befreit.«
»Alles ist bestens.«
»Ja?«, sagte Chuck und wurde langsamer. Dann grinste er dreckig. »Anscheinend will der Chief Ihre Nase nicht so bald wieder sehen.«
»Ihre aber auch nicht«, erinnerte sie ihn.
Chuck schnaubte, als hätte sie einen Witz gemacht. Lena kannte niemand anderen, der so gut darin war, das Offensichtliche zu ignorieren.
Chuck sagte: »Er kann mich nur nicht leiden, weil ich in der High School mit seiner Freundin zusammen war.«
»Sie waren mit Sara Linton zusammen?« Genauso gut hätte er behaupten können, er hätte mit der Königin von England Händchen gehalten.
Chuck zuckte lässig die Schultern. »Ist lange her. Seid ihr befreundet oder so was?«
»Ja«, log Lena. Sara war alles andere als eine Freundin.
»Davon hat sie nie erzählt.«
»Na ja, ist wohl auch ein wunder Punkt für sie«, sagte Chuck. »Hab sie damals wegen einer anderen sitzen lassen.«
»Ganz bestimmt«, sagte Lena. Chuck bildete sich wirklich ein, dass die Leute seine Sprüche glaubten. Er ging nebenbei auch von der irrigen Annahme aus, er würde auf dem Campus allseits respektiert. Dabei wusste jeder, dass Chuck seinen Posten nur bekommen hatte, weil sein Daddy einen Anruf bei Kevin Blake getätigt hatte, dem Dekan des Grant Institute of Technology. Albert Gaines, Präsident von Grant Trust and Loan, hatte in der Stadt viel mitzureden, vor allem in der Verwaltung des GIT. Als Chuck nach acht Jahren in der Army heimgekommen war, wurde ihm der Posten als Chef der Campus-Polizei auf dem Silbertablett präsentiert, ohne dass irgendjemand Fragen stellte.
Einem Mann wie Chuck unterstellt zu sein, war für Lena eine bittere Pille, die sie täglich schlucken musste. Doch als sie ihre Polizeimarke abgegeben hatte, hatte sie nicht gerade die große Auswahl gehabt. Mit vierunddreißig konnte Lena nichts anderes, als Polizistin zu sein. Direkt nach der High School hatte sie die Polizeiakademie besucht und diesen Entschluss nie in Frage gestellt. Ansonsten hätte sie nur noch Hamburger braten oder irgendwo putzen können, und keins von beiden schien ihr besonders verlockend.
Lena hatte damals überlegt wegzugehen, vielleicht nach Mexiko oder nach Europa auf die Suche nach den Wurzeln ihrer Großeltern, oder sich freiwillig beim Entwicklungsdienst zu melden. Doch dann hatte die Realität sie eingeholt. Sie begriff, dass die Bank sich nicht darum scherte, ob Lena einen Tapetenwechsel brauchte – sie hatte eine Hypothek abzuzahlen und die monatlichen Raten für das Auto. Selbst mit der mageren Abfindung der Polizei und dem wenigen Geld, das sie für das Haus bekam, war die Lage kritisch.
Der Job im College bot freie Unterkunft und Krankenversicherung statt einem reellen Gehalt. Auch wenn die Wohnung auf dem Campus mies war und die Krankenversicherung eine so hohe Selbstbeteiligung hatte, dass Lena in Panik ausbrach, wenn sie nur niesen musste – immerhin war es ein fester Job, und sie musste nicht wieder bei ihrem Onkel Hank einziehen. Zurück nach Reece zu gehen, wo Hank die Zwillinge aufgezogen hatte, wäre zu einfach gewesen. Sie hätte sich in der Bar, die Hank gehörte, an den Tresen stellen können, um ihre Albträume zu ersäufen, und die Narben auf ihren Händen wären irgendwann die einzige Erinnerung daran gewesen, was sie vor langer Zeit in den Suff getrieben hatte.
Vor etwas mehr als einem Jahr war Lena vergewaltigt worden. Nicht nur vergewaltigt, sondern entführt und tagelang gefangen gehalten. Ihre Erinnerungen waren lückenhaft, weil sie fast die ganze Zeit unter Drogen gestanden hatte; ihr Geist war an einem sichereren Ort, während ihr Körper gefoltert wurde. Die Narben an Händen und Füßen jedoch waren die bleibenden Andenken daran, dass sie mit gespreizten Beinen und Armen an den Fußboden genagelt worden war, damit sich ihr Vergewaltiger jederzeit an ihr vergehen konnte. An kalten Tagen schmerzten ihre Hände immer noch, doch der Schmerz stand in keinem Verhältnis zu der
Weitere Kostenlose Bücher