Grant County 05 - Gottlos
Kratzer im Holz erkennen, wie von einem gefangenen Tier. Im nächsten Brett, das Jeffrey ihr reichte, steckte ein Fingernagel etwa in der Länge ihrer eigenen. Sara legte das Brett zur Seite. Das nächste wies noch tiefere Kratzer auf. Sara ordnete die Bretter nach ihrer ursprünglichen Lage. All das war Beweismaterial. Vielleicht war es doch ein Tier. Ein Lausbubenstreich. Ein alter indianischer Friedhof. Verschiedenste Erklärungen gingen ihr durch den Kopf, während sie zusah, wie Jeffrey eine Planke nach der anderen löste. Jedes Brett bohrte sich wie ein Splitter in Saras Herz. Insgesamt waren es fast zwanzig, doch bereits nach dem zwölften konnten sie erkennen, was sich darunter verbarg.
Jeffrey starrte in den Sarg, sein Kehlkopf bewegte sich, als er schluckte. Wie Sara hatte es ihm die Sprache verschlagen.
Das Opfer war eine junge Frau, wahrscheinlich keine zwanzig Jahre alt. Ihr dunkles Haar reichte bis zur Taille und bedeckte einen Teil ihres Körpers. Sie trug ein einfaches blaues Kleid, das ihr bis zu den Waden ging, und weiße Strümpfe ohne Schuhe. Mund und Augen waren weit aufgerissen. Sara konnte ihre Todesangst förmlich schmecken. Das Mädchen hatte eine Hand nach oben gestreckt, die Finger gekrümmt, als würde sie noch immer versuchen, sich den Weg freizukratzen. Im Weiß ihrer Augen waren winzige punktförmige Blutungen, und dünne rote Linien auf ihren Wangen zeugten von längst getrockneten Tränen. Neben ihr lagen mehrere leere Wasserflaschen und eine Art Nachttopf. Außerdem waren da eine Taschenlampe und ein angebissenes Stück Brot. Das Brot war verschimmelt, und auch auf der Oberlippe des Mädchens hatte sich Schimmel gebildet, wie ein flaumiger Schnurrbart. Die junge Frau war keine auffallende Schönheit, doch wahrscheinlich war sie auf ihre ganz eigene, unscheinbare Art hübsch gewesen.
Jeffrey atmete langsam aus und setzte sich auf. Wie Sara war er voller Erde. Wie Sara war es ihm egal.
Sie starrten das Mädchen an, sahen zu, wie der Wind in ihrem dichten Haar und an den langen Ärmeln ihres Kleides spielte. Sara bemerkte, dass sie eine Schleife im Haar trug, die zum Stoff des Kleides passte, und fragte sich, wer sie ihr wohl angesteckt hatte. War es ihre Mutter oder ihre Schwester gewesen? Oder hatte sie in ihrem Zimmer vor dem Spiegel gesessen und sich die Schleife selbst gebunden? Und was war dann passiert? Wie war sie hierhergeraten?
Jeffrey wischte sich die Hände an der Jeans ab und hinterließ dabei blutige Abdrücke. «Die hatten nicht vor, sie umzubringen», sagte er.
«Nein», stimmte Sara zu und wurde von unsäglicher Traurigkeit überwältigt. «Sie wollten sie nur zu Tode erschrecken.»
ZWEI
In der Klinik hatte man Lena auf die blauen Flecken angesprochen.
«Alles in Ordnung bei Ihnen, Schätzchen?», hatte die ältere schwarze Schwester gefragt und besorgt die Stirn in Falten gelegt.
Lena hatte automatisch mit Ja geantwortet und gewartet, bis die Schwester den Raum verließ, bevor sie sich weiter anzog.
Als Polizistin hatte sie ständig blaue Flecke: an der Hüfte, wo die Dienstwaffe so massiv auf den Knochen drückte, dass es sich an manchen Tagen anfühlte, als würde die Pistole eine bleibende Delle hinterlassen. Am Unterarm, an dem wie mit blauer Kreide gezeichnet eine dünne Linie verlief, wo sie den Arm gegen das Holster presste, damit nicht gleich jeder Zivilist bemerkte, dass sie eine Waffe trug.
Anfangs war es noch härter gewesen: Rückenschmerzen, Blasen vom Holster, Striemen vom Gummiknüppel, der ihr beim Rennen gegen das Bein schlug, wenn sie einen Täter verfolgte. Manchmal tat es richtig gut, den Knüppel zum Einsatz zu bringen, wenn sie den Kerl schließlich erwischte. Dann zahlte sie dem Arschloch heim, dass sie bei dreißig Grad im Schatten und mit vierzig Kilo schwerer Ausrüstung am Körper hinter ihm herrennen musste. Und das mit kugelsicherer Weste. Lena kannte Cops – große, kräftige Männer –, die wegen der Hitze vor Erschöpfung ohnmächtig geworden waren. Im August war es so heiß, dass sie alle ernsthaft überlegten, welches das kleinereÜbel war: erschossen zu werden oder an einem Hitzschlag zu sterben.
Und trotzdem – als sie zum Detective befördert wurde und Uniform und Mütze ablegen musste, zum letzten Mal das Funkgerät abgab, da vermisste sie das ganze Gewicht. Ihr fehlte die drückende Erinnerung daran, dass sie ein Cop war. Als Detective musste sie ohne Requisiten auskommen. Auf der Straße konnte sie nicht mehr die
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