Grappa 02 - Grappas Treibjagd
arbeiteten die Muskeln.
»Verfolgen Sie mich?«, fragte er mit einer gefährlichen Ruhe. Er warf mir einen Blick zu, als sei ich ein komplizierter Blinddarmdurchbruch.
»Würde sich das denn lohnen? Sie zu verfolgen?«
Er hatte keine Lust, auf meine Frage zu antworten. Er reichte mir die Fotos zurück und erwiderte: »Ich glaube, Sie machen einen großen Fehler, verehrte Frau Grappa! Sie haben sich den falschen Verdächtigen rausgesucht. Ich war im Übrigen bei der Polizei und habe eine Aussage gemacht.«
Das war neu! »Ach ja, und welche?«
»Dass ich kurz – sehr kurz – mit Frau Gutweil befreundet war.«
»Und? Was hat die Polizei gesagt?«
»Sie hat mein Alibi überprüft. An dem Abend hatte ich Dienst in der Klinik.«
»Wie praktisch! Und Ihre Häubchenträgerinnen haben das bestätigt?«
»Ich habe keine Ahnung! Vermutlich wird es so sein, denn die Polizei hat mir mitgeteilt, dass sie mich in der Sache nicht mehr belästigen wird.«
Der Mann versteht zu kämpfen, dachte ich, und seine Waffen waren noch um Klassen besser als meine.
»Ihre Märcheninterpretation«, gab ich Ellenbogen noch mit auf den Weg, »war übrigens ausgesprochen schlapp. Jeder halbwegs intelligente Mensch begreift, dass der König mit seiner Tochter ins Bett wollte, diese nein sagte, er sie dafür bestrafen wollte, und sie sich durch das Schlüpfen in die Mausehaut hässlich machte, damit der geile Bock die Finger von ihr lässt. Vereitelter Inzest und sexueller Missbrauch! Das ist die Geschichte.«
Ellenbogen zuckte nicht mit der Wimper, dafür aber mit den Schultern. Er drehte sich um und ging.
Ich ließ Lämmchen allein zurück und ging zu Fuß nach Hause.
Die Bierstädter Goldene Meile war fast leer. Nur ein paar Penner schliefen vor den gläsernen Türen der Konsumpaläste. »Haste ma 'ne Maak«, lallte mich einer an. »Nein; du?«, gab ich zurück und beschleunigte meine Schritte, damit ich nicht noch was aufs Maul bekäme. Ich dachte über den Tag nach. In dem Zettelkasten in meinem Kopf herrschte weiterhin heilloses Durcheinander. Ich hatte die Sache noch lange nicht im Griff.
»Onkel Herbert« holt die Post
Der Mann, der die Hauptpost in Bierstadt betrat, benahm sich so unauffällig wie ein schlecht sitzendes Toupet. Er war klein und ging mit kleinen Schritten. Die Kleidung war eine Mischung aus orientalischem Basar und Altkleidersammlung der Pfadfinderjugend. Um seinen enormen Bauch hatte er eine schwarze Schärpe geschlungen. Die Hosenbeine flatterten um seine drallen Waden. Das Haar war schütter und gefärbt, dafür lang und zuckerwattig. Es handelte sich zweifellos um eine Parade-Exemplar der Gattung »Mann«!
Doch nicht diese Erkenntnis allein fesselte meine Aufmerksamkeit. Er trippelte auf den Postlager-Schalter zu und stellte sich hinten an. Ab und zu schaute er sich um. Ich vertiefte mich schleunigst in das neue Postleitzahlenbuch und lernte die Nummern auswendig.
Stundenlang hatte ich im Postamt auf Folterstühlen aus Draht gesessen, sodass die Haut meines Hinterteils das Rhombenmuster eines Schweinerollbratens angenommen hatte. Sollte diese Tortur doch noch belohnt werden? War der kleine Dicke »Onkel Herbert«? Ich erhob mich und reihte mich unauffällig in die Schlange ein.
»Ich möchte die Briefe mit dem Kennwort ›Onkel Herbert‹ aus dem Postlagerfach abholen!«, forderte der Mann. Der Postbeamte warf einen prüfenden Blick auf seinen Kunden. Dann griff er ins Fach, zog wenige Umschläge heraus und reichte sie dem Mann. Der steckte sie umständlich unter die schwarze Schärpe und trippelte in Richtung Ausgang.
Ich hinterher. Nein, dieser bunte Vogel konnte nicht »Onkel Herbert« sein, der gepflegte Bierstädter Unternehmer! Der hat bestimmt seinen Gärtner oder Masseur geschickt, dachte ich. Wir waren inzwischen auf der Straße. Die Ampel vor der Post zeigte »rot«, und der Dicke blieb stehen. Ich postierte mich in seinem Rücken. Sah, wie er sich mit kleinen kräftigen Händen das Haar zurechtstauchte. Er hatte Farbflecken an den Fingern und abgekaute Nägel.
Plötzlich gab es Unruhe. Zwei Männer legten dem Dicken die Hände auf die Schultern. Ich hörte aufgeregte Stimmen. Die Ampel zeigte noch immer rot. Der dicke Kleine rannte plötzlich mit gar nicht mehr so kleinen Trippelschritten auf die Straße und vermied geschickt den Verkehrsunfalltod. Ich sah nur noch seine flatternden Hosenbeine. Autos bremsten und hupten ärgerlich. Der Dicke war weg. Untergetaucht im Gewühl der
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