Grappa 02 - Grappas Treibjagd
hervortrat und ans Rednerpult schritt. Ich verdarb ihm seinen Auftritt, denn er verharrte eine kleine Weile, als er mich sah, und ging dann erst weiter. Ich fixierte ihn scharf und kam mir verdammt cool vor. Trotzdem war ich froh, als ich die erste Reihe erreichte. Ich setzte mich hastig und wurde in die Anonymität des abgedunkelten Raumes getaucht. Ich atmete tief durch. Es war schon merkwürdig, das Weiß im Auge des Feindes gesehen zu haben.
Es war eine andere Situation für mich als bei dem Interview. Wir beide spielten nicht unsere gewohnten Rollen, hinter denen wir uns verschanzen konnten. Er war heute Abend nicht der Chefarzt, der seine Leute springen ließ, und ich war nicht die Pressetante mit Block und Bleistift. Keiner von uns wusste, was heute Abend passieren würde. Er war unsicher, und ich musste zusehen, dass ich die Oberhand behielt.
Noch würde er meine Observation für einen Zufall halten, vielleicht auch noch beim zweiten und dritten Mal. Doch dann würde er sich gegen sein ungutes Gefühl nicht mehr wehren können. Er würde sich verfolgt fühlen und versuchen, diese Verfolgung zu beenden. Und dabei würde er Fehler machen.
»Märchen sind ein Spiegelbild der menschlichen Gesellschaft«, hörte ich ihn sagen, »der Gesellschaft, wie sie früher war, aber auch, wie sie heute ist. Märchen sind kein Kinderkram, sondern sie beschreiben reale Sehnsüchte, Probleme, Gefühle und Tabus. Sie beschreiben das Verhältnis der Menschen zueinander, zeigen Machtverhältnisse auf, sind so originell und konkret, wie nur das wirkliche Leben sein kann. Doch auch die Krankheiten der Gesellschaft werden hier dokumentiert: Machtmissbrauch, sexuelle Perversitäten, Unterdrückung, Gewalt und Grausamkeit. Dies alles ist in den Märchen enthalten. Dies alles wird geschildert in einer kreativen, konkreten und bildhaften Sprache, deren Metaphern man entschlüsseln muss. Dies kann man lernen, auch Sie können es lernen. Und ich werde Ihnen zeigen, wie es geht.«
Nicht übel, dieser Einstieg. Der Mann konnte reden, das stand fest. Er hatte das Publikum in kurzer Zeit gefesselt. Die Frau mit der Bronchitis neben mir vergaß vor Verzückung das Husten. Der Mann war eine explosive Mischung aus bürgerlichem Karrieretyp, bigottem Saubermann und zynischem Intellektuellen! Tagsüber Dr. Jekyll, nach Sonnenuntergang Mr. Hyde. Auch ein beliebtes Thema von Märchen und Sagen. Der Mensch mit den zwei Gesichtern. Während meiner Analyse hörte ich seine Stimme im Hintergrund. Er wusste, wie er die Worte zu setzen hatte. Es würde nicht leicht mit ihm werden, das war mir klar. So kühl, wie er seinen Auftritt bei diesen Kindergartenmädels inszeniert hatte, noch kühler würde er versuchen, sich meinen dreisten Nachstellungen zu entziehen.
»Heute möchte ich mit Ihnen über ein besonders hübsches Märchen sprechen. Das Märchen von der ›Prinzessin Mausehaut‹ von den Gebrüdern Grimm. Keine Angst, es geht nicht um ein Mädchen, das Mäuse haut, sondern um ein interessantes Verhältnis zwischen Vater und Tochter.«
Die Kindergärtnerinnen kicherten. Mein Gott, dieser dämliche Gag war mir auch schon eingefallen. Das war unter seinem Niveau. Ellenbogen wartete lächelnd den Applaus ab, und dabei suchten seine Augen unruhig die erste Reihe ab. Er sah mich, und ich schaute ihn unverwandt an.
Dann erzählte er das Märchen: »Ein König hatte drei Töchter, und eines Tages wollte er wissen, welche ihn am liebsten hätte, und er fragte sie. Die älteste antwortete, sie habe ihn lieber als das ganze Königreich, die zweite, als alle Edelsteine und Perlen, und die dritte, sie habe ihn lieber als Salz.
Der König war erbost, weil sie ihre Liebe zu ihm mit einer solch geringen Sache verglich. Er befahl einem Diener, sie in den Wald zu führen und sie zu töten. Doch der Diener brachte dies nicht fertig, er ließ das Mädchen laufen. Zuvor bat sie ihn, ihr ein Kleid aus Mausehaut zu machen, er gehorchte, sie wickelte sich darin ein und ging fort. Sie geriet an den Hof eines benachbarten Königs, gab sich als Mann aus und trat in seine Dienste. Er behandelte sie schlecht und warf ihr die Stiefel an den Kopf. Dann fanden andere Diener einen kostbaren Ring, den Mausehaut verloren hatte. Sie brachten ihn vor den König mit der Behauptung, dass er ihn gestohlen haben müsse.
Mausehaut konnte und wollte sich nicht länger verbergen und wickelte sich aus der Mausehaut. Ihre goldenen Haare quollen hervor, sie war so schön, dass der König
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