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Grappa 11 - Grappa und das große Rennen

Grappa 11 - Grappa und das große Rennen

Titel: Grappa 11 - Grappa und das große Rennen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriella Wollenhaupt
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Aussprache gab es nicht. Warum auch? Manthey sagte sowieso auf jedem Parteitag das Gleiche. Selbst auf Junghans' Tod ging er nicht ein, und die ›Erneuerer in der SPD‹ waren für ihn auch kein Thema, denn das hätte ja bedeutet, dass Manthey die eigenen Führungsqualitäten hätte hinterfragen müssen.
    Interessanter war der Tagesordnungspunkt nach der Raucherpause. Jakob Nagel, der neue Kandidat für das Amt des Oberbürgermeisters, würde seine Vorstellungsrede halten.
    Nagel war ein unauffälliger Mann Mitte fünfzig. Er arbeitete seit Jahren bei der Bierstädter Stadtverwaltung und hatte sich während dieser Zeit zum Stadtdirektor hochgearbeitet. Er gehörte zwar der SPD an – doch es fehlte ihm der so genannte ›Stallgeruch‹: Nagel hatte studiert, promoviert und war zudem noch kulturell interessiert, ziemlich intelligent und gebildet. Also das genaue Gegenteil dessen, was die Partei, der dicke Manthey und der tote Junghans verkörperten.
    Nagel trat ans Pult. Er trug einen mittelbraunen Anzug, einen mittelbraunen Schlips, ein mittelgelbes Hemd, seine Stimme hatte eine mittlere Tonlage, sein Haar war mittelbraun und er war mittelgroß.
    Nachdem er fünf Minuten geredet hatte, beschlich mich eine unsagbare Müdigkeit, gegen die ich nicht ankämpfen konnte. Irgendwann stieß mir Piny den Ellenbogen in die Rippen: »Aufwachen, Grappa, es ist gleich zu Ende.«
    Ich schreckte hoch. »Hab ich was verpasst?«, stammelte ich.
    »Nö. Ich hab dir, während du geschlummert hast, ein Exemplar seiner Rede besorgt. Da liegt sie!« TOP deutete auf einen Haufen Blätter.
    »Danke dir«, sagte ich gerührt. Es geht doch nichts über Kollegen, die mitdenken, dachte ich.
    Nagel lag in den letzten Zügen. Er beteuerte, ganz wirklich Oberbürgermeister werden zu wollen: »Wir sollten die Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen, die sich fragen: Sind dreiundfünfzig Jahre SPD genug? Wir sollten denen zuhören, die uns Vetternwirtschaft und Filz vorwerfen, und ihre vielleicht berechtigten Vorwürfe prüfen. Wir haben uns zu lange in Sicherheit gewiegt, wir sind arrogant und faul geworden. Haben wir unser Ohr noch am Mund der Bürgerinnen und Bürger? Liebe Genossinnen und Genossen – wir sollten all das, was wir tun und entscheiden, darauf überprüfen, ob unsere ursprünglichen Vorstellungen von Demokratie, Toleranz und sozialer Gerechtigkeit noch erfüllt werden.«
    »Erneuerer in der SPD«, schallte es durch den Saal.
    Eine plötzliche Unruhe kam auf. Ich versuchte, den einsamen Rufer auszumachen – zusammen mit zweihundert anderen Delegierten. Unsere Blicke fielen auf einen: Gregor Gottwald, Mitte siebzig, seit fast siebenundzwanzig Jahren Oberbürgermeister von Bierstadt. Er saß ganz vorn – auf einem reservierten Platz – und schaute kampflustig zu Manthey hin.
    Schließlich stand das Noch-Stadtoberhaupt auf und sagte laut und deutlich: »Wir müssen umdenken, sonst geht die Wahl den Bach runter.«
    »Es gibt keine Erneuerer! Unterbrechen Sie die Rede des Genossen Nagel nicht«, dröhnte Manthey durchs Mikrofon – mitten hinein in einen verhaltenen Applaus, der sofort wieder verstummte. »Die Aussprache folgt nach der Rede, Genosse Gottwald!«
    »Ich lasse mir nicht den Mund verbieten, Genosse Parteichef«, bollerte Gottwald los.
    Manthey wollte dem alten Mann noch mal einen überbraten, doch Jakob Nagel kam ihm zuvor: »Ich bin dem Genossen Gottwald dankbar für seine Wortmeldung. Ich habe seinen Rat und seine Arbeit immer geschätzt. Und ich freue mich, dass auch er erkannt hat, dass sich in dieser Stadt etwas ändern muss. Auch ich arbeite seit vielen Jahren für diese Stadt. Ich mag diese Stadt. Ich liebe die Menschen, die hier leben und arbeiten. Ich schlage jeden Tag Schneisen in den Dschungel von Zwängen und Zahlen – und ich tue das für die Bürgerinnen und Bürger. Die Partei ist wichtig für mich, doch die Menschen dieser Stadt stehen für mich im Vordergrund. Ihr seid auch Bürgerinnen und Bürger – und nicht nur Delegierte der Partei. Deshalb sollt ihr mich wählen. Ich rechne mit euch! Der Beste muss ran! Und ich bin der Beste.«
    Nach zwei oder drei Schrecksekunden war schüchterner Beifall zu hören. Ich tat, was ich sonst nie tat, wenn ich dienstlich unterwegs war: Ich applaudierte. TOP warf mir einen strafenden Blick zu, ich streckte ihm die Zunge heraus.
    Nach und nach wurde der Beifall etwas üppiger.
    Zwei Stunden später wurde Jakob Nagel von seiner Partei offiziell als Kandidat

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