Grappa 14 - Grappa und der Tod aus Venedig
Venedig-Seminar warb.
LASSEN SIE SICH VON DEN MUSEN KÜSSEN
Sehen ... Hören ... Denken ... Fühlen ... Lesen ... Lachen ...
Essen ... Trinken ... Malen und Schreiben!
Zehn Menschen, die Literatur, Musik, Kunst, Architektur lieben, treffen sich in Venedig im Palazzo Contarini del Bovolo. Menschen denken, dichten, malen und musizieren – und messen sich in einer ganz besonderen Schule in der Stadt der Musiker, Maler und Dichter.
Unten auf der Seite war ein Foto des Palazzo zu sehen. Die drei hatten sogar extra einen italienischen Koch engagiert – so war es auf dem Flugblatt vermerkt worden.
Hatte das Seminar vielleicht etwas mit den Morden zu tun? Der Streit zwischen den drei Veranstaltern könnte darauf hindeuten. Die Spur war es wert, verfolgt zu werden.
Venedig! In meinem Hirn bauten sich Bilder auf von schönen alten Palazzi, blauem Meer, bunt dekorierten Gondeln und attraktiven Männern.
Ich ging schnurstracks zu Jansen und berichtete von meiner Spur – allerdings übertrieb ich deren Bedeutung ein bisschen.
»Du willst wohl eine Dienstreise nach Venedig machen«, erkannte mein Chef messerscharf.
»Warum nicht?«, meinte ich. »Irgendwie muss ich die Recherche ja weiterbringen.«
»Es ist jetzt noch ziemlich kalt dort«, warnte er mich. »Du wirst wenig Spaß haben, Grappa. Kannst du überhaupt Italienisch?«
»Ein bisschen«, log ich. »Ich werde mich schon durchfragen.«
»Und wo willst du anfangen?«, wollte Jansen wissen.
»Im Palazzo. Aber ich weiß ja noch gar nicht, ob das Seminar wirklich eine Rolle spielt«, beruhigte ich ihn. »Ich werde mir zunächst Krawottki und Wiesengrundel vornehmen.«
»Über diesen Wiesengrundel steht was in der letzten Ausgabe der Konzerthaus-Postille!« Jansen legte mir eine bunte Zeitschrift hin. Er deutete mit dem Finger auf eine Eintragung.
Welturaufführung – las ich. Venezianischer Zyklus über eine verklärte Nacht. Komponist und Dirigent: Ben Wiesengrundel.
»Das ist ja schon heute Abend«, erkannte ich verdutzt.
»Dann schmeiß dich in dein kleines Schwarzes und geh hin«, grinste Jansen. »Du stehst doch auf klassische Musik. Genau das Richtige für dich.«
Verklärte Nacht! Eine schöne Formulierung.
Ich gab den Begriff in eine Suchmaschine im Internet ein und die nächsten zwei Stunden schwelgte ich in schönen Geschichten. Verklärte Nacht war der Titel eines Gedichtes von Richard Dehmel und ein Streich-Sextett von Arnold Schönberg. Ich las mir den Text laut vor:
Zwei Menschen gehn durch kahlen, kalten Hain;
der Mond läuft mit, sie schaun hinein.
Der Mond läuft über hohe Eichen;
kein Wölkchen trübt das Himmelslicht,
in das die schwarzen Zacken reichen.
Die Stimme eines Weibes spricht:
Ich trag ein Kind, und nit von Dir,
Ich geh in Sünde neben Dir.
Ich hab mich schwer an mir vergangen.
Ich glaubte nicht mehr an ein Glück
und hatte doch ein schwer Verlangen
nach Lebensinhalt, nach Mutterglück
und Pflicht; da hab ich mich erfrecht,
da ließ ich schaudernd mein Geschlecht
von einem fremden Mann umfangen
und hab mich noch dafür gesegnet.
Nun hat das Leben sich gerächt:
nun bin ich Dir, o Dir begegnet.
Sie geht mit ungelenkem Schritt.
Sie schaut empor; der Mond läuft mit.
Ihr dunkler Blick ertrinkt in Licht.
Die Stimme eines Mannes spricht:
Das Kind, das Du empfangen hast,
sei Deiner Seele keine Last,
o sieh, wie klar das Weltall schimmert!
Es ist ein Glanz um alles her;
Du treibst mit mir auf kaltem Meer,
Doch eine eigne Wärme flimmert
Von Dir in mich, von mir in Dich.
Die wird das fremde Kind verklären,
Du wirst es mir, von mir gebären;
Du hast den Glanz in mich gebracht,
Du hast mich selbst zum Kind gemacht.
Er fasst sie um die starken Hüften.
Ihr Atem küsst sich in den Lüften.
Zwei Menschen gehn durch hohe, helle Nacht.
Mich schauderte, das war ein wunderbares Gedicht: Mann und Frau, sie mit dem Kind eines anderen schwanger und darüber verzweifelt, er sie liebend und zutiefst verletzt. Seine Liebe zu ihr »verklärt« schließlich das fremde Kind und alles wird gut.
Heutzutage, im Zeitalter des legalen Schwangerschaftsabbruchs, hätte das Kind wohl keine Überlebenschance mehr, ging es mir durch den Kopf. Ein kleiner Eingriff und nichts wäre mehr da, an dem die Größe einer Liebe demonstriert werden und Gefühle verklärt werden könnten.
Warum hatte Wiesengrundel sich an dieses Werk angelehnt? Hatte das Gedicht etwas zu bedeuten?
So ein Quatsch, dachte ich. Irgendwelche Titel
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